Milliarden werden für Trinkgeld ausgegeben. Angeblich für den guten Service, um das schlechte Gewissen zu beruhigen, aus Gewohnheit. Letztlich bleibt die Trinkgeldkultur aber unergründlich.
Im ältesten Teil Roms war die Osteria, zu dritt sassen wir darin, bestellten ein gutes Mahl und einen Wein aus den Abruzzen. Der Kellner entkorkte und dekantierte diesen mit einem Zeremoniell, das den Eindruck vermittelte, er habe sein Metier nicht an der Wirtefachschule, sondern in der Opera buffa gelernt. Das ist trinkgeldwürdig, entfuhr es dem einen, darüber müsste man schreiben, einem anderen.
Also, was ist trinkgeldwürdig? Warum bezahlen wir regelmässig noch etwas mehr für den Service, der uns ja schon gemäss Speise- und Weinkarte zum ordentlichen Tarif zusteht?
Da der Gedanke in einer römischen Osteria entstand, dachte ich zuerst, das Trinkgeld müsse ein uralter Brauch sein, verankert als Ritual im menschlichen Gen. Ist es aber nicht. Der deutsche Historiker Winfried Speitkamp und der Amerikaner Kerry Segrave haben schöne Studien über die Geschichte des Trinkgelds geschrieben. Im Altertum waren Trinkgelder selten. In der heutigen Form entstanden sie im Mittelalter als «Trinckgelt» oder «Trunkgeld» und wurden für allerlei Dienstleistungen übergeben, verbunden mit dem Wunsch, man möge auf das Wohl des Spenders anstossen.
Im England des siebzehnten Jahrhunderts entstand der Brauch, dass die Gäste eines aristokratischen Hauses den Bediensteten ein Trinkgeld geben. Dieser Usus war auch in den bürgerlichen Häusern meiner Jugend noch gang und gäbe, ist aber in der Zwischenzeit wohl praktisch ausgestorben.
Trinkgeld galt als unamerikanisch
In den USA kam das Tipping erst nach dem Bürgerkrieg auf: Frühe Touristen hatten den Brauch aus Europa mitgebracht. Bis dahin galt das Verteilen von Trinkgeldern als undemokratisch, herablassend und einfach unamerikanisch.
Heute leistet sich die amerikanische Gesellschaft die wohl schwungvollste Trinkgeldkultur der Welt. Allein in der Gastronomie und in verwandten Bereichen beliefen sich im Jahr 2018 die Trinkgelder auf 38 Milliarden Dollar, was beinahe zwei Prozent des amerikanischen Bruttosozialprodukts ausmachte; heute wird es einiges mehr sein. Diese exorbitante Trinkgeldkultur hat allerdings einen Haken: Die Restaurantbesitzer haben über die Jahrzehnte die Festsaläre ihrer Angestellten stetig reduziert und diese damit vom Trinkgeld abhängig gemacht. Der Gast ist heute faktisch verpflichtet, wie Amerikareisende wissen, ein Trinkgeld von 15 oder mehr Prozent zu hinterlassen, aus einer freiwilligen Geste wurde eine quasi-rechtliche Norm.
1 Milliarde Franken Trinkgeld
Aber auch hierzulande werden Trinkgelder verteilt, was das Zeug hält. Man schätzt die Trinkgeldsumme in der Schweiz auf über 1 Milliarde Franken, was mehr als einem Prozent des Bruttosozialproduktes entspricht. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt: Trinkgelder erhalten Kellner und Kellnerinnen, Taxifahrer, Coiffeusen und Friseure, Platzanweiser (nicht mehr so oft), Garderobiers, Handwerker, der Valet-Service, Reiseführerinnen, Müllabfuhr, Pöstler, Zeitungsverträger, Portiers, Concierges.
Ich selbst habe als jugendlicher Ausläufer und Tennisballbub Trinkgelder à 20 Rappen pro Einsatz bekommen. Ein stadtbekannter Anwalt soll von einem zufriedenen Klienten, der mit ihm gerade einen schönen Deal durchgezogen hatte, einen Ferrari erhalten haben, ein anderer einen Porsche. Neue Formen des Trinkgeldes kommen auf: Gelegentlich gibt man jetzt auch an der Theke eines Selbstbedienungsrestaurants ein Trinkgeld, und das «Tablet Tipping» nimmt allenthalben zu: Man wird auf dem Bildschirm des Zahlterminals, der Uber-App oder auf einem schwenkbaren Tablet an der Kasse aufgefordert, dem Preis ein bestimmtes Trinkgeld hinzuzufügen.
Der Trend kennt nur einen Weg: nach oben. Die Globalisierung wie auch Covid haben das Tipping gefördert, die digitalen Zahlformen, Inflation und Wokeismus, der Diskriminierung wittert, wirken entgegen. Der «Economist» mutmasst indessen, dass zumindest in den USA der Gipfel erreicht sein könnte.
Um einen guten Service geht es kaum
Ökonomen, die das Trinkgeld untersuchten, haben Schwierigkeiten, es zu erklären. Warum zahlen moderne, aufgeklärte, rationale Konsumenten für eine Dienstleistung einen Zuschlag, wo doch eher der Rabatt oder der Skonto die Norm ist? Weshalb geben Stammgäste in einem Restaurant, wie empirische Studien herausgefunden haben, mehr Trinkgelder als Einmalbesucher, während sie von Fluggesellschaften Treueprämien und in der Papeterie Mengenrabatte verlangen?
Der amerikanische Betriebswissenschafter Michael Lynn hat wohl mehr als irgendjemand anders das Trinkgeld als ökonomisches Problem untersucht. In einer Meta-Analyse sind er und Michael McCall der naheliegendsten These nachgegangen, wonach Trinkgelder bezahlt werden, weil die Kundin und der Kunde eine über der erwarteten Norm liegende Qualität des Services honorieren wollen. Sie analysierten die Resultate von insgesamt dreizehn empirischen Untersuchungen. In der Schlussfolgerung stellten sie fest, dass es zwar eine gewisse Korrelation zwischen Trinkgeldhöhe und Zufriedenheit mit der Servicequalität gibt, diese aber recht schwach ist und die Trinkgeldvergabe auch nicht annähernd erklären kann.
Die Schuldthese
Dies ist heute die vorherrschende Meinung, ökonomisch betrachtet bleibt das Trinkgeld ein Rätsel. Es gibt viele alternative Erklärungen, die mehr an psychologische oder soziologische Vorgänge anknüpfen. Mit dem Trinkgeld kann man ein Statusgefälle überbrücken und etwas Gerechtigkeit erstellen, was unserer modernen Stimmungslage entspräche. Damit verwandt ist die Schuldthese: Wir zahlen Trinkgelder, weil wir uns dafür schämen, dass wir uns bedienen lassen. Gelegentlich mag es ein bourdieuscher Habitus sein, mit dem wir soziale Überlegenheit demonstrieren, ein andermal Bestechung. Vielleicht ist es einfach ein Ritual, das wir verinnerlicht haben. Sicherlich verkommt das Ganze mehr und mehr zu einer Norm, wie die alljährlich pünktlich zur sommerlichen Feriensaison erscheinenden Trinkgeldguides beweisen.
Vielleicht lohnt es sich, einen Blick in die Literatur zu werfen, vor allem in jene reiche Romanwelt, in der es noch um ein raffiniertes Gesellschaftsleben ging. Bei Henry James, Marcel Proust, Vladimir Nabokov, John Steinbeck, Ernest Hemingway, F. Scott Fitzgerald, Thomas Mann und anderen ist das Geben von Trinkgeldern eine häufige Ausschmückung der Erzählung.
Es darf auch einmal ein Smaragdring sein
Ich kenne keinen anderen Roman, in dem so viele Trinkgelder verteilt werden, wie in Hemingways «Siesta». Jake, die Hauptfigur, zahlt, ganz Amerikaner, Trinkgelder, um die Menschen glücklich zu machen. Beleidigt er einen Kellner, gleicht er das mit einem «Overtip» aus, und das heilt alles.
Auch im «Felix Krull» werden fleissig «Pourboires» und «Douceurs» verteilt, Ein-, Zwei- und gelegentlich Zehn-Franken-Stücke werden in die Hände des hübschen Liftboys gelegt, Silberlinge wechseln diskret den Besitzer und einmal auch ein Smaragdring; hier geht es aber weniger um das Glück des Empfängers als um die sublimierte erotische Zuneigung des Gebers. Ganz anders bei Proust. Als dieser ein Restaurant ohne noch vorhandene Barmittel verliess, fragte er den Kellner beim Hinausgehen, ob ihm dieser zwanzig Francs leihen könne. Als dieser eilfertig die Börse zog, sagte Proust: «Ach, lassen Sie es, es ist Ihr Trinkgeld.» Wie kann man besser ausdrücken, um was es hier geht: Habitus, Ritual, aber auch reinste persönliche Wertschätzung.
Die kleine Gerechtigkeit im Alltag
So bleibt dann das Trinkgeld eine schillernde Sache. Wir können es empirisch nicht erklären, aber wir sollten wenigstens versuchen, die Essenz dieses sozialen Austausches zu verstehen. Für mich ist das Trinkgeld die kleine Gerechtigkeit im Alltag, es hat Facetten des Abbaus von sozialen Schranken, der Kompensation eigener Schuldgefühle, einer kleinen, für den Empfänger aber oftmals wertvollen Gratifikation und des Ausdrucks der Wertschätzung, des Verteilens von Glück und zuweilen einer Begierde, die man weiterspinnen möchte, zum Beispiel wenn der Gast in einem New Yorker Restaurant unterhalb der Trinkgeldlinie noch seine Telefonnummer anfügt.
Diese Idee der kleinen Gerechtigkeit im Alltag haftet in meiner Vorstellung seit den Tagen, in denen meine Familie in Italien Strandferien verbrachte. Spätestens am drittletzten Tag des Urlaubs begannen wir über die Trinkgeldvergabe zu diskutieren, was natürlich intime Kenntnisse der Struktur einer italienischen Kellnerbrigade voraussetzte: Oberkellner, Capitano, Sommelier, Kellner, Commis und Ragazzo di Sala.
Hatte man Rang und spezifische Fähigkeiten, Zuneigung und Eilfertigkeit taxiert, wurden die Lirascheine auf je angemessene Häufchen verteilt, und diese verschwanden dann in der Jacke meines Vaters: Oberkellner in die linke, Sommelier in die rechte Brusttasche, Capitano und Kellner in die linke bzw. rechte Seitentasche, die Commis und Ragazzi in die Hosensäcke. Das war fast ein Gerichtsverfahren, akribisch angewandte kleine Gerechtigkeit. Nach erfolgter, äusserst diskreter Verteilung, strahlten allenthalben die Gesichter, und wir konnten uns von der letzten Tafelrunde des Urlaubs mit gutem Gewissen erheben.
Trotzki verweigerte sich dem Ritual
Damit bleibt die Frage, wie man das Trinkgeld vom moralischen Standpunkt aus einordnen soll. Linke Politiker lehnen es programmatisch ab. Leo Trotzki war berühmt dafür, dass er sich während seines New Yorker Aufenthaltes standhaft weigerte, den Kellnern ein Trinkgeld zu geben, weil er die Kapitalisten nicht entlasten wollte – er übersah, dass er die Falschen traf.
Rechtsökonomen wie Yoram Margalioth wollen das Trinkgeld abschaffen beziehungsweise es durch eine Servicepauschale ersetzen. Sie bringen unter anderem vor, dass das Geben von Trinkgeldern Diskrimination fördere, weil Dienstleister, die Minderheiten angehörten, sowohl weniger Trinkgelder erhielten wie auch gäben, Letzteres unterminiere deren Reputation. Trinkgelder würden auch die soziale Ungleichheit verstärken, weil wohlhabendere Kunden grössere Tips gäben, wodurch sie das allgemeine Trinkgeldniveau auf eine Höhe trieben, das sich andere nicht mehr leisten könnten.
In der Schweiz gilt eigentlich «Service inbegriffen»
Politisch ist das Trinkgeld besonders in den USA mehr denn je umstritten. Die Demokraten wollen es durch eine besteuerbare Servicepauschale ersetzen. Für Trump ist der Kampfruf «No Tax on Tips» einer der wichtigsten Programmpunkte.
Die Schweiz schaffte das Trinkgeld schon vor langem ab, die Restaurants bedienen hier «Service inbegriffen». Es hat nichts genützt. Das Trinkgeld ist umgehend wieder auferstanden und heute lebendiger denn je. Auch hier wollen aber plötzlich die Steuerbeamten Steuern darauf erheben. Wem nützt es?
Die Institution des Trinkgeldes ist und bleibt unergründlich. Es entzieht sich jeglicher zwingenden Analyse. In einer Welt, in der alles erklärt, untersucht und normiert ist, leisten wir uns im letzten Prozent des Bruttosozialproduktes etwas Irrationalität. Und das ist gut so.
Peter Kurer war Verwaltungsratspräsident bei der UBS und bei Sunrise. Er ist Anwalt, Unternehmer und Publizist.