Überkapazitäten in China sind seit mehr als 15 Jahren ein Dauerthema: Angefangen bei Stahl und Zement hat es sich nun auf grüne Technologien und Automobile ausgeweitet. Es liegt im Interesse Pekings, das Problem anzugehen.
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Überkapazitäten sind seit vielen Jahren ein Schandfleck in der chinesischen Industrielandschaft, der Dutzende von Branchen betrifft und der Weltwirtschaft im Allgemeinen sowie dem chinesischen Wirtschaftswachstum im Besonderen enormen Schaden zufügt. Als die EU-Handelskammer in China im Jahr 2009 ihren ersten Bericht zu diesem Thema veröffentlichte, war dieses Phänomen jedoch nur selten untersucht worden.
Leider haben sich die Überkapazitäten in China, seit ich Ende 2016 mit der EU-Kammer einen aktualisierten Bericht dazu veröffentlicht habe, weiter verschlimmert. Aber anders als in den Jahren 2009 und 2016, als sich das Thema primär um «schwere» Industrien wie Stahl, Aluminium und Zement drehte, belasten Chinas Überkapazitäten die Weltwirtschaft heute auch mit anspruchsvolleren Produkten: grüne Technologien, beispielsweise Solarpanels, sowie Automobile.
Hartnäckigste Deflation seit 1998
Aufgrund der Auswirkungen der Überkapazitäten auf die Gewinne der heimischen Industrie steckt Chinas Wirtschaft gegenwärtig in der hartnäckigsten Deflationsphase seit 1998. Die Konsumenten- und Produzentenpreise sinken seit mehr als drei Quartalen. Dieser Trend hat schwerwiegende Auswirkungen auf die Rentabilität der chinesischen Industrieproduzenten und beeinträchtigt das wirtschaftliche Gefüge der Volksrepublik.
Das grösste Opfer der chinesischen Überkapazitäten ist die chinesische Wirtschaft selbst. Sie ist jedoch nicht das einzige Opfer. Da auch zahlreiche Unternehmen und Industrien in anderen Regionen der Welt von den Überkapazitäten in China betroffen sind, leidet die Weltwirtschaft ihrerseits ebenfalls.
Eine Folge davon sind zunehmende Spannungen zwischen China und seinen Handelspartnern. Die Europäische Union führt derzeit Untersuchungen wegen möglicherweise unfairen Subventionen im Markt für Elektrofahrzeuge durch, die zu Importzöllen auf chinesische Autos führen könnten. In den USA wurden vom Handelsministerium bereits Ausgleichsabgaben und Zölle gegen eine Reihe chinesischer Produkte verhängt. Die drohende Eskalation der Handelskonflikte ist eine weitere Belastung für die Weltwirtschaft.
Warum haben die vielen angekündigten Versuche Pekings, Überkapazitäten in der heimischen Wirtschaft zu beseitigen, zu derart schwachen Ergebnissen geführt?
Eine Reihe von Erklärungen bietet sich an:
- Lokaler Protektionismus und die Zersplitterung der Industrie, die durch regionale Günstlingspolitik bedingt ist;
- Schwache Durchsetzung von Vorschriften;
- Niedrige Inputpreise aufgrund staatlicher Subventionen;
- Ein Fiskal- und Steuersystem, das lokale Regierungen zu übermässigen Investitionen ermutigt;
- Umwelt-, Gesundheits- und Sicherheitsgesetze, die nicht vollständig umgesetzt werden;
- Eine weit verbreitete Philosophie unter chinesischen Unternehmen, die den Gewinn von Marktanteilen auf Kosten der Rentabilität priorisiert;
- Kostengünstige und weit verbreitete Technologie.
Levin Zhu, ehemaliger Chef der China International Capital Corporation und Sohn des früheren Ministerpräsidenten Zhu Rongji, wies bereits 2015 darauf hin, dass angesichts des Ausmasses der Herausforderungen, vor denen China steht, eine grundlegende Umstrukturierung stattfinden muss, wenn das langfristige Potenzial der Wirtschaft ausgeschöpft werden soll.
Die Zentralregierung hat seither einige Massnahmen angekündigt, doch leider haben diese nur wenige echte Durchbrüche gebracht, die Chinas industrielle Überkapazitäten abgebaut hätten. Das wirft die Frage auf, warum den vielen Initiativen und Erklärungen der Zentralregierung in Peking so wenig Folge geleistet wurde.
Die Regierung ist Teil des Problems
Eine mögliche Erklärung ist, dass die Regierungen auf allen Ebenen aufgrund des hohen Wirtschaftswachstums in der Vergangenheit selbstzufrieden geworden sind. Ausserdem führte die Erwartung einer Nachfrageexplosion bei den Wirtschaftsakteuren zu irrationalem Überschwang und weiteren Fehlinvestitionen.
Aber auch die gewichtige Rolle der Regierung bzw. der Parteiführung in der chinesischen Wirtschaft selbst ist Teil des Problems. Sie macht es äusserst schwierig, langfristige Lösungen wirksam umzusetzen, denn dazu müsste sie von ihrem Kontrollwahn abkehren und den Marktkräften freien Lauf lassen. Für ein System, das sehr stark auf staatlich gelenkte Lösungen fixiert ist, widersprechen solche Reformen sowohl den etablierten Instinkten als auch einem Entwicklungsmodell, das in der Vergangenheit gut funktioniert hat.
Was wären notwendige Schritte, damit die Überkapazitäten in Chinas Wirtschaft effektiv abgebaut werden? Folgende Massnahmen bietet sich an:
- Senkung der Investitionsausgaben (Capex) in Branchen mit Überkapazitäten.
- Reform des Steuersystems, um den Lokalregierungen mehr Finanzierungsmöglichkeiten zu geben, damit sie weniger Anreize haben, lokale Unternehmen zu subventionieren, mit dem Ziel, ihre Steuerbasis und ihr Beschäftigungsniveau zu erhalten.
- Generelle Kürzung der staatlichen Subventionen für die Industrie.
- Ausweitung und Erhöhung der Dividendenzahlungen von staatlich kontrollierten Unternehmen (State-Owned Enterprises, SOE), um die Fähigkeit der SOE zu beschneiden, in nicht benötigte, volkswirtschaftlich schädliche Expansionen zu investieren.
- Eine indirekte Umverteilung der SOE-Dividendenzahlungen an die chinesischen Haushalte über eine Erhöhung der staatlichen Ausgaben für soziale Sicherheit, Gesundheit und Bildung, um dank der daraus resultierenden steigenden Konsumnachfrage das Wirtschaftswachstum zu fördern.
Letztlich geht es bei der Bekämpfung von Überkapazitäten nicht nur um die Verringerung des Kapazitätswachstums. Die überschüssige Produktionskapazität selbst muss abgebaut werden.
Je länger die seit Jahren von der Regierung versprochene Umstrukturierung veralteter und ineffizienter Kapazitäten im chinesischen Industriesektor aufgeschoben wird, inklusive der Schliessung überflüssiger Anlagen, desto schwerer wiegt die Last. Das gilt sicherlich für Chinas Wirtschaft, aber auch für die Weltwirtschaft.
Jörg Wuttke
Jörg Wuttke war Präsident der EU-Handelskammer in China – von 2007 bis 2010, von 2014 bis 2017 sowie von 2019 bis 2023. Wuttke war Chairman der Deutschen Handelskammer von 2001 bis 2004. Er ist Mitglied des Beratergremiums des Mercator Institute for China Studies (MERICS) in Berlin. Er lebt seit mehr als drei Jahrzehnten in Peking.