Seit einigen Jahren wird der chinesische Staatspräsident immer stärker vom Primus inter Pares der chinesischen Führungsclique zum neuen Mao. Das hat Folgen für Politik, Militär und Wirtschaft – und für die Schweiz.
Das drohende Verbot von TikTok in den USA ist ein Fanal. Rund 60% des Unternehmens werden von internationalen, primär amerikanischen Investoren gehalten, die Substanz und deren Verbreitung aber wird von China gesteuert. Dieses Monster zur Volksbelustigung oder -verdummung ist Teil der Überflutung von Social Media mit chinesischer Soft Power – und ein direkter Kanal vom chinesischen Überwachungsstaat zu Millionen von TikTok-Nutzern.
Aus Angst vor dieser Einflussnahme wurde das US-Repräsentantenhaus mit grosser, parteiübergreifender Mehrheit tätig. Die erwähnten Investoren werden zwar ihre geballte Kraft ihrer Lobby einsetzen, um im US-Senat ein anderes Resultat zuwege zu bringen. Trotzdem wird das Verbot wohl auch dort eine Mehrheit finden. Seine Übernahme durch andere westliche Länder, eingeschlossen der Europäischen Union, ist dann lediglich noch eine Frage der Zeit.
Unterhaltung aus Asien ist schon früher in Wellen über den Rest der Welt geschwappt. So etwa Manga aus Japan oder Filme und Popmusik aus Korea. Warum also die politische Abwehr gegen die oberflächlich harmlos wirkend App von TikTok? Weil das Produkt aus einem Land stammt, das unter Staatspräsident Xi Jinping zum politischen und militärischen Monster geworden ist, das den Frieden und die herrschende Ordnung in der Region Asien-Pazifik sowie global bedroht.
Die Vorrangstellung der Politik hat mit dazu geführt, dass sich die chinesische Wirtschaft nachteilig entwickelt und dass sich westliche Akteure aus der Volksrepublik zurückziehen.
Das gilt auch und gerade für die Schweiz. Mitte März erschienen in der NZZ dazu zwei bezeichnende Artikel:
«Schweizer Unternehmen stellen ihr Chinageschäft auf den Prüfstand: Nach Jahren der Euphorie herrscht in Wirtschaftskreisen gegenüber China zunehmend Ernüchterung. Auch Schweizer Firmen reagieren verunsichert. Mit Sandoz und Lonza haben sich jüngst zwei Schwergewichte gar zum Rückzug entschlossen».
Sowie:
«Hongkongs Banker (darunter befindet sich bekanntlich auch die UBS) zittern vor dem neuen Gesetz zur nationalen Sicherheit.»
Politik unter Xi
Seit einigen Jahren wird Xi immer stärker vom Primus inter Pares der chinesischen Führungsclique, wie wir sie seit dem Tod von Mao gekannt haben, zum neuen Mao. Allein sein Machtwort zählt. Sein Bild hängt allüberall, seine Schriften sind die Bibel der Partei, für Schulen und Universitäten und sie werden den Massen am Arbeitsplatz und mit dem täglichen Brot aufgedrängt. Unter Xi ist die interne Sicherheit zur Totalüberwachung aller Bürger ausgewuchert, offener Dissens ist unmöglich und die nationalen Minderheiten, nicht nur die Uiguren, werden erbarmungslos an die chinesische Kultur assimiliert.
Zum ersten Mal seit Mao hat Xi dem Premierminister, die Nummer 2 im Lande und traditionell für die Wirtschaft zuständig, verboten, im Anschluss an den diesjährigen Volkskongress eine eigene Pressekonferenz abzuhalten. Xi hatte dafür gesorgt, dass der willfährige Li Qiang diesen Posten erhielt, der sich mit Demutsgesten unterwirft. Unvergessen ist die global ausgestrahlte Szene, als Xi anlässlich eines früheren Kongresses den ehemaligen Premier Hu Jintao öffentlich demütigte. Gerade in Asien wird eine solche öffentliche Blossstellung – ein Gesichtsverlust – von jedermann verstanden: Es gibt nur einen Gott und der bin ich.
Militär unter Xi
Das chinesische Militärbudget wächst knapp 10% von Jahr zu Jahr. Es beinhaltet allerdings keineswegs alle Rüstungsausgaben. Darin nicht eingeschlossen sind insbesondere die militärische Forschung und Entwicklung sowie die Küstenwache, die zur Sicherung des südchinesischen Meeres und zur Speerspitze eines Angriffs auf Taiwan ausgebaut wird.
Die gegenwärtige Wirtschaftsflaute bedeutet allerdings, dass auch das Rüstungsbudget beeinträchtigt wird. Xi will das nach seinen Aussagen am Volkskongress vor Vertretern des Militärs mit erhöhten Produktionszahlen von kostengünstiger Ausrüstung kompensieren. Wie Putin in der Ukraine setzt er für den Konfliktfall auf Masse unter Inkaufnahme von grossen anfänglichen Verlusten als Folge der technologischen Überlegenheit eines Widersachers. Was das für einen Angriff auf Taiwan bedeutet, werden wir in einem separaten Artikel darlegen.
Wirtschaft unter Xi
Die völlige Unterwerfung der chinesischen Wirtschaft unter das Diktat der Politik hat zur Flucht der Anleger geführt. Seit dem Höchst von Anfang 2021 hat ein Aktienausverkauf an den chinesischen Börsen in der Höhe von 2 Bio. $ für einen Einbruch des MSCI China um 60% gesorgt. Zahlreiche Anleger und Beobachter halten China nun für uninvestierbar, wie anlässlich einer Konferenz von Goldman Sachs in Hongkong unlängst zum Ausdruck kam.
Für die Industrie dürfte von Interesse sein, dass die Zentralregierung in Peking vor kurzem einige hochverschuldete Provinzen zu radikalen Streichungen von Infrastrukturvorhaben gezwungen hat. Die Tätigkeit im Immobilienbereich steht ohnehin praktisch still und die Auftragsvolumen für Unternehmen sinken in China stark, wie das beispielsweise der Schweizer Liftbauer Schindler erfahren musste.
Vor diesem Hintergrund erstaunt die doppelte Akzentsetzung der offiziellen Schweizer Politik auf China: Politisch, indem das Land in der aussenpolitischen Strategie 2024–27 als «Priorität» in Asien eingestuft wird. Wirtschaftlich mit dem schweizerischen Begehren – konträr zu allen westlichen Partnerländern –, dass für eine Ausweitung des bilateralen Freihandelsabkommens plädiert wird. Dies zu einem Zeitpunkt, wo ein illegaler chinesischer Preiskampf dem nahe beim Schreibenden ansässigen Hersteller von Solaranlagen, Meyer Burger, das Genick bricht und damit mehrere hundert europäische Arbeitsplätze verschwinden.
Das ist der Auftakt einer vierteiligen Serie, in der die beiden ehemaligen Botschafter der Schweiz Daniel Woker und Philippe Welti aufzeigen, wie sich der geopolitische Horizont im Grossraum Asien-Pazifik verdunkelt und die wirtschaftlichen Risiken steigen.
Daniel Woker
Meere und Märkte: Geopolitik 2.0 als Schlüssel zur weltpolitischen Aktualität