2009 steuerten überforderte Piloten einen intakten Airbus über dem Südatlantik ins Verderben. Die Luftfahrt hat viel daraus gelernt.
Immer wieder aber passieren zunächst rätselhafte Flugunfälle, bei deren Untersuchung sich zeigt, dass sie ohne das fatale Einwirken der Piloten nicht passiert wären. So wie beim Absturz des Air-France-Flugs 447 am Pfingstmontag vor 15 Jahren, dem 1. Juni 2009.
Ein computergesteuertes Flugzeug fliegt viel sicherer und verlässlicher, als es das allein von Pilotenhand gesteuert tun könnte. Trotzdem ist es entscheidend, dass die Menschen im Cockpit ihre Maschine verstehen und notfalls eingreifen können.
Wenn heute Unfälle passieren, entstehen diese immer wieder auch aus Konfusion an der Schnittstelle Mensch – Maschine. Das Grundproblem dabei: Junge Piloten lernen in ihrer Ausbildung kaum noch elementare Grundlagen des handwerklichen Fliegens.
Etwa wie sie ein ausser Kontrolle geratenes Flugzeug durch einen gezielten Sturzflug wieder in ihre Gewalt bringen können. Genau diese Kenntnisse fehlen ihnen dann in den vielleicht entscheidenden Minuten in ihrer Karriere, wo es plötzlich doch auf den Menschen im Cockpit ankommt.
Die meisten Cockpitbesatzungen erleben heute in ihrer gesamten Laufbahn keinen einzigen Zwischenfall. Zwischen den wenigen Minuten, in denen sie gefordert sind, liegen in den Cockpits oft endlose Stunden von Langeweile und Routine. Auch das kann ein Problem sein.
Auf den Absturz des Air-France-Flugs 447 vor genau 15 Jahren deutet zunächst gar nichts hin. Am Gate in Rio de Janeiro steht ein moderner Airbus A330, gerade einmal vier Jahre alt. Der Airbus A330 gilt als sehr sicher – fast tausend Exemplare fliegen in aller Welt zu diesem Zeitpunkt. Noch nie ist seit der Einführung 1994 ein A330 im Liniendienst verunglückt.
Der Flug AF447 ist an diesem Abend fast ausgebucht, 216 Passagiere sind an Bord, die meisten kommen aus Frankreich (61), Brasilien (58) und Deutschland (26), auch sechs Schweizer reisen mit. Neben den drei Piloten gehören neun Flugbegleiter zur Besatzung.
Um 19.29 Uhr Ortszeit hebt der Flug AF447 von der Startbahn in Rio-Galeão ab, die Landung in Paris-Charles-de-Gaulle ist nach rund zehneinhalb Stunden Flug über die Distanz von gut 10 000 Kilometern für den nächsten Morgen geplant.
Ein Pilot wird von zwei Systemmanagern begleitet
Der Flugkapitän Marc Dubois ist ein Veteran mit fast 11 000 Flugstunden, davon über die Hälfte als Kapitän. Der Erste Offizier Pierre-Cédric Bonin hat knapp 3000 Flugstunden absolviert, fast alle davon auf Airbus-Jets mit sogenannten Sidesticks zur Steuerung anstatt der herkömmlichen Steuersäulen.
Bonin hat das klassische Flughandwerk nie gelernt, sondern nur in Flugzeugen gesessen, die weitgehend vom Autopiloten geflogen werden, seine Flugstunden sind somit von minderer Qualität als jene des Flugkapitäns, was seine wahre Qualifikation angeht.
Der fünf Jahre ältere David Robert, auf diesem langen Flug als zusätzlicher Erster Offizier dabei, weist mit 6547 Flugstunden auf dem Papier zwar wesentlich mehr Erfahrung auf, hat praktisch aber ebenso nur in den gleichen automatisierten Airbus-Cockpits gearbeitet wie sein jüngerer Co-Piloten-Kollege.
Nur vier Minuten nach dem von Hand geflogenen Start schaltet Bonin den Autopiloten ein, der jetzt das Flugzeug bis kurz vor dem Aufsetzen ans Ziel bringen soll. Doch diese Routine hält nicht lange: Mitten auf dem Flugweg türmt sich bald eine schwere Gewitterfront auf. In dieser Nacht steht ein extrem hochreichendes, intensives System von Fronten am Himmel in dieser bei Piloten gefürchteten innertropischen Konvergenzzone, einer Tiefdruckrinne in Äquatornähe.
Auf die nächste im regulierten Luftraum verfügbare Standardhöhe von 37 000 Fuss (11 277 Meter) zu steigen, wie von Bonin wiederholt vorgeschlagen, verhindert der Kapitän – er fürchtet das Risiko eines Strömungsabrisses, des völligen Verlusts des Auftriebs.
Doch das kann gar nicht passieren in einem Airbus, selbst wenn die Piloten entsprechende Kommandos geben würden. Denn dafür verfügt das Flugzeug über einen speziellen Mechanismus, mit dem der Computer verhindert, dass überzogene und potenziell gefährliche Flugzustände eintreten können. Hier schützt die Maschine den Menschen vor Unvernunft oder Fehlern. Ein Airbus kann daher unter Normalbedingungen eigentlich gar nicht abstürzen.
Kapitän Dubois besteht darauf, pünktlich zur verabredeten Zeit seine Pause in dem Ruheraum hinter dem Cockpit anzutreten. Der Airbus fliegt nun in ein Gebiet mit heftiger werdendem Wetter, das Kommando haben zwei unerfahrene Männer. Das Geräusch auf die Scheiben prasselnder Eiskristalle erfüllt das Cockpit, die Turbulenzen aber bleiben die ganze Zeit über moderat. Nichts, was wirklich Anlass zur Sorge gäbe.
Verhängnisvolle Vereisung und fehlende Flugerfahrung
Was die Piloten nicht ahnen und was sie gleich ins Verderben reissen wird – die drei Staurohre unter der Flugzeugnase setzen sich zur gleichen Zeit mit Eis zu. Die drei beheizbaren Metallsonden ermitteln aus der anströmenden Luft den Druck in der Umgebung des Flugzeugs und berechnen die Geschwindigkeit des Flugzeuges, aber auch die Fluglage. Die Zuverlässigkeit dieser Messungen ist entscheidend für das korrekte Arbeiten des Autopiloten und des gesamten Flugmanagement-Systems.
Die Vereisung der sogenannten Pitot-Rohre ist als Problem bekannt, das allerdings nur in grossen Flughöhen unter sehr selten vorhandenen Bedingungen auftritt. Auch Air France nahm dieses Problem so ernst, dass die Gesellschaft schon ein verbessertes Ersatzmodell bestellt hatte, mit dem die Flotte umgerüstet werden sollte.
Zu spät für den Flug AF447: Um 2.10.05 Uhr Weltzeit schaltet sich der Autopilot ab. Durch die ungleichmässige Vereisung der Pitot-Rohre bekommen die Computer unterschiedliche Messwerte gemeldet, was korrekte Berechnungen unmöglich macht.
Jetzt steht die A330 nicht mehr unter dem automatischen Schutz vor potenziell bedrohlichen Eingaben durch die Piloten, fliegt nun wie ein normales Flugzeug. Das tut es tadellos und bleibt im stabilen Reiseflug. Die befürchteten heftigen Turbulenzen bleiben aus, die einzigen Fehlfunktionen gibt es in der Anzeige von Flughöhe und Geschwindigkeit. Beides bleibt aber faktisch unverändert.
Klar ist: Es gibt zu diesem Zeitpunkt keine Krise an Bord des Flugs AF447. Die Piloten haben das Flugzeug voll unter ihrer Kontrolle. Es gibt für sie keinen Grund zu handeln. Gar nichts tun, einfach weiterfliegen wäre das richtige Vorgehen.
Doch das Gegenteil geschieht. Bonin übernimmt die Kontrolle und zerrt an seinem Sidestick. Nur ganz kurze Inputs mit dem Sidestick würden völlig ausreichen, um dem Flugzeug Kommandos zu geben. Einmal kurz den Stick neigen und wieder loslassen. Weil der Airbus sich leicht um seine Längsachse bewegt, will Bonin versuchen, die Tragflächen wieder in die Horizontale zu bewegen.
Und jetzt beginnen die Probleme. Trotz seinen fast 3000 Flugstunden auf Airbus-Jets verhält Bonin sich mit wiederholten maximalen Inputs wie ein panischer Autofahrer, der seinen Wagen durch übermässiges Eingreifen wieder unter Kontrolle zu bekommen versucht.
Beide Piloten agieren zunehmend konfus und arbeiten unbewusst gegeneinander. Damit nimmt eine absolut vermeidbare und unnötige Katastrophe ihren Lauf, die um 2.14.28 Uhr, also genau 4 Minuten und 23 Sekunden später, damit endet, dass ein voll funktionsfähiges Flugzeug aus über zehn Kilometern Reiseflughöhe auf Meereshöhe stürzt und mit 280 km/h, die Unterseite zuerst, flach auf die Wasseroberfläche des Südatlantiks aufschlägt, was die Maschine zerstört und alle Insassen sofort tötet.
Und das, weil im Cockpit zwei junge Co-Piloten sitzen, die die Situation ihres Flugzeugs nicht verstehen. Und in ihrer zunehmenden Panik falsch und unkoordiniert handeln. In der Bewertung dieses Unfalls wäre es aber zu einfach, nur die beiden Co-Piloten und ihre in diesem Fall offensichtliche Inkompetenz zu kritisieren. Flugunfälle haben immer vielfältige Ursachen, und nur wenn viele einzelne Dinge gleichzeitig schiefgehen, kommt es tatsächlich zu einem Absturz. Auch gegen Airbus und Thales als Hersteller der Staurohre wurde ermittelt.
Idealerweise führen Unfälle zu Fortschritten bei der Flugsicherheit – wie auch in diesem Fall, der zu einer entscheidenden Wegmarke wurde. Am wichtigsten war die Erkenntnis, dass selbst vielen langjährigen Piloten praktische Erfahrungen für das manuelle Fliegen und Beherrschen ihres Flugzeugs in Situationen fehlten, wenn ihnen einmal nicht wie sonst der Computer hilft.
Wegen dieser übermässigen Abhängigkeit von Automation lag das Augenmerk nach dem Unglück des Flugs AF447 daher auf der Verbesserung des Pilotentrainings, sowohl im Simulator als auch vermehrt in praktischen Übungen.
«Das war neues Terrain, wo wir dazugelernt haben», sagt Oliver Will, ein deutscher Flugkapitän und Ausbilder mit Kunstflugberechtigung. Er trainiert Jet-Kollegen darin, mit einem einmotorigen Spezialflugzeug Abfangmanöver in der Realität zu fliegen, um eine Maschine aus prekärer Lage herauszusteuern, auch wenn das zunächst gegen den fliegerischen Instinkt geht. «Man muss dabei gerade in grosser Höhe aggressiv agieren, das haben wir erst nach dem Unfall von AF447 gelernt», so Will.
Weitere Änderungen gab es etwa im Design der Staurohre, um Vereisung zu verhindern, aber auch in der Vorschrift, dass Flugzeuge heute alle 15 Minuten ein automatisches Signal mit ihrem Standort senden. So können sie auch über abgelegenen Stellen über den Ozeanen, die nicht vom Radar erfasst werden, besser geortet und im schlimmsten Fall einfacher gefunden werden.
Diesem Ziel dient auch die neue Vorschrift, dass die Unterwassersender von Flugdatenschreiber und Stimmenrekorder nun 90 statt vorher 30 Tage aktiv sind. Beim Flug AF447 dauerte das Auffinden des Wracks in 4000 Meter Tiefe zuvor noch fast zwei Jahre.
Juristisch wurde für den Tod von 228 Menschen bis heute niemand zur Verantwortung gezogen. Erst im April 2023 gab es Freisprüche sowohl für Airbus als auch Air France. Allerdings wollte die Pariser Staatsanwaltschaft dagegen in Berufung gehen, darüber verhandelt oder entschieden ist bis heute nicht. Das ist sehr unbefriedigend für die Angehörigen, 15 Jahre nach der Katastrophe.
Eine «perfide Verschleppungspolitik» nennt das Bernd Gans, Vorsitzender einer AF447-Hinterbliebenenorganisation, gegenüber DPA. Die Freisprüche seien willkürlich gewesen.