Der italienische Reifenhersteller Pirelli liefert als erster einen Reifen, der mit der Elektronik des Autos kommuniziert. So soll die Fahrt sicherer und nachhaltiger werden.
Pirelli spricht vollmundig von einem neuen Reifenzeitalter, das nun anbrechen soll. Der Pneuhersteller liefert als erster einen Reifen, der mit Sensoren ausgestattet ist. Diese sollen mit den elektronischen Systemen des Fahrzeugs wie dem ABS, dem Elektronischen Stabilitätsprogramm (ESP) und der Traktionskontrolle interagieren.
«Genau genommen sind es pro Reifen drei Sensoren, die in die Karkasse des Pneus eingebaut sind», erklärt Andrea Casaluci, CEO von Pirelli. Ein Problem mit Unwuchten oder anderen Einflüssen der Sensoren auf die Lauffähigkeit der Reifen sieht er nicht: «Es ist für die Messung der Sensoren unabdingbar, dass sie fest in die Innenseite der Lauffläche des Cyber Tyre eingebaut sind.»
Den Grund für den Einsatz von Sensoren in den Reifen zieht Casaluci aus der Marktforschung. «Die jüngsten Prognosen besagen, dass im Jahr 2030 rund 80 Prozent aller Neuwagen im Premium- und Luxussegment Elektroautos sein werden», erklärt er, allerdings ohne Angabe der Quellen. «Und 60 Prozent der neu gekauften Autos werden voll vernetzt sein. Reifen werden eine zentrale Rolle bei der vernetzten Mobilität spielen.»
Pirelli will demnach die Brücke zwischen dem Fahrbahnbelag und dem Auto technologisch ausbauen, die es längst gibt. Die Reifen der Fahrzeuge sind die einzige Berührungsfläche von Auto und Strasse – ein Fakt, der oft in den Hintergrund tritt. Zu oft, wie man bei Pirelli findet.
Einstieg ins Geschäft mit vom Kunden erhobenen Daten
Das soll sich mit der Einführung des Cyber Tyre ändern. Die von den Sensoren gelieferten Informationen sollen genutzt werden, um sowohl die Leistung als auch die Sicherheit der Autos zu verbessern. Der Supersportwagen Utopia des italienischen Luxusherstellers Pagani soll als erstes Fahrzeug mit den vernetzten Reifen ausgerüstet werden. Das rund 2,6 Millionen Euro teure Auto wird ab 2025 an die Kunden ausgeliefert, stets ausgerüstet mit vernetzten Pirelli-Reifen.
Man arbeite bereits seit 2016 gemeinsam am Projekt der vernetzten Reifen, erklärt Horacio Pagani, für den die Integration von Reifendaten und Fahrzeugelektronik einen entscheidenden Schritt in der Fahrzeugentwicklung darstellt. Erst Pirelli habe die richtigen Sensoren entwickelt, die den Strassenbelag abtasten könnten wie menschliche Hände, sagt er. Es sei zwar ein kleiner Schritt in einem langen Prozess, aber ein grosser Schritt hin zum alltäglichen Einsatz.
Das System des Cyber Tyre überträgt eine Vielzahl von Informationen an das Fahrzeug und den Fahrer. Dazu gehören Daten über den Reifentyp, ob es Winter- oder Sommerreifen sind, den vorgeschriebenen Luftdruck, den Lastindex und die Geschwindigkeitsklasse sowie aktuelle Betriebsinformationen wie Bodenkräfte, Temperatur und Reifendruck. Der Bordcomputer kann diese Daten verarbeiten und wichtige Informationen an Fahrzeugsysteme wie ABS und ESP weitergeben, damit diese optimal arbeiten und das Fahren dadurch sicherer und komfortabler wird.
Die zentrale Frage dabei dürfte neben dem Preis der Hightech-Pneus sein, wer die Daten nutzen darf, die von den Sensoren des Cyber Tyre generiert werden. Es darf davon ausgegangen werden, dass der Kunde beim Kauf einwilligt, die Daten mit Pirelli und Pagani zu teilen. Sie werden damit für beide Hersteller auch zur begehrten Handelsware, an der Lieferanten von Fahrwerken und Elektroniksystemen interessiert sein dürften.
Welche weiteren Autobauer den fühlenden Reifen von Pirelli einsetzen wollen, ist noch nicht bekannt. Sicher scheint allerdings, dass schon bald weitere Pneuhersteller in das Geschäft mit den vernetzten Reifen einsteigen werden.
Ganz neu ist der Cyber Tyre von Pirelli allerdings nicht. Bereits 2019 hat Pirelli als erster Reifenhersteller das Erkennen von Aquaplaning durch seinen vernetzten Reifen über das 5-G-Netzwerk mit anderen Fahrzeugen geteilt. Und in der Erstausrüstung erhielt 2022 der McLaren Artura erstmals den Sensorreifen, wenngleich noch in reduziertem Leistungsumfang.
Umweltfreundlichere Reifenmaterialien sollen CO2 reduzieren
Einen zweiten zeitgeistigen Trend hat Pirelli ebenfalls fest im Blick: die Nachhaltigkeit. Bis 2026 will der italienische Hersteller – zumindest in den europäischen Werken – nur noch Naturkautschuk verwenden, der über eine FSC-Zertifizierung verfügt. Der FSC (Forest Stewardship Council) steht für nachhaltige Forstwirtschaft und wendet strenge Standards an, die den Erhalt der biologischen Vielfalt und den wirtschaftlichen Nutzen für die lokalen Arbeiter und Gemeinschaften sicherstellen sollen.
Mit der Konzentration auf natürliche Materialien wie Naturkautschuk, rezykliertes PET und Silica aus Reisschalen als Ersatz für fossile Rohstoffe will Pirelli bei seinen Reifen bis 2030 eine Reduktion der CO2-Emissionen von 80 Prozent erreichen. Die neue Reifengeneration P Zero E steht dabei für weniger verwendetes Material, geringeren Verschleiss und den Einsatz von Biomaterialien. «Bereits seit 2023 verwenden wir natürlichen Kautschuk in unseren Reifen für die Formel 1», erklärt Matteo Battaini, Chef der Pirelli-Nachhaltigkeitsabteilung. Seit 2024 gebe es erste Pirelli-Velopneus mit FSC-Zertifizierung.
Erster Autohersteller, der die Pirelli-Reifen mit FSC-zertifizierten Materialien bei Serienfahrzeugen einsetzen will, ist die Jaguar-Land-Rover-Gruppe (JLR), die pünktlich zur Präsentation der neuen Technologie am Goodwood Festival of Speed eine Liefervereinbarung mit dem Pneuhersteller geschlossen hat.
Für Alison Nuttall, die bei JLR ihrerseits für Nachhaltigkeit zuständig ist, sind die FSC-Reifen ein wichtiger Schritt auf dem Weg des indisch-britischen Autokonzerns, bis 2039 komplett klimaneutral zu sein. Der nächste Range Rover mit Batterieelektroantrieb komme Ende 2024 mit den nachhaltigen Pirelli-Pneus auf den Markt, sagt sie. Weitere Autohersteller werden künftig ein Augenmerk auf nachhaltige Reifenmaterialien legen, um den Schritt zur Klimaneutralität zu beschleunigen.
Teilabsage an den luftlosen Reifen
Damit beginnt Pirelli ein ganz neues Kapitel, das bisherige Forschungsbereiche in den Hintergrund verschiebt. Verschiedene Reifenhersteller propagierten in den vergangenen Jahren den «Pneu der Zukunft», einen Reifen ohne Luft, dafür mit einer komplexen Struktur mit einer Vielzahl von Streben zwischen Felge und Profil.
Diese Entwicklung laufe parallel neben derjenigen zum vernetzten Reifen, erklärt Pierangelo Misani, Cheftechniker bei Pirelli. «Für hochwertige Pneus im Hochleistungsbereich sind solche Reifen allerdings noch auf längere Sicht keine gangbare Lösung. Sie sind den Reifen mit Luft in Sachen Rollwiderstand und bei den in Kurven wirkenden Querkräften unterlegen.»