Nach einer langen Flaute wird der Mikromobilitätsanbieter Lime endlich profitabel.
Mikromobilität erlebte vor zehn Jahren einen ersten Hype, insbesondere durch die Vermietung von elektrischen Zweirädern für die Kurzstrecke in Ballungszentren. Doch die Ernüchterung kam schnell.
Die im «Free floating»-Verfahren, also ohne feste Abholstationen angebotenen E-Roller machten Gehwege zur unkontrollierten Parkzone und verärgerten Passanten. Vandalen warfen sie in Flüsse und Seen. Zudem stiegen längst nicht so viele Gelegenheitsnutzer auf, wie erwartet. So verschwanden zahlreiche Anbieter ebenso schnell vom Markt, wie sie gekommen waren.
Auch Lime aus dem kalifornischen San Mateo hatte Startschwierigkeiten, nicht zuletzt in der Schweiz. Doch das Unternehmen mit der Zitrusfrucht im Logo bewies einen langen Atem, und seit zwei Jahren hat es einen Lauf: Mittlerweile sind die selbstentwickelten, weiss-grünen Scooter und Velos auf 5 Kontinenten, in über 200 Metropolen und in fast 30 Ländern unterwegs.
2023 verzeichnete es weltweit über 150 Millionen Fahrten. Lime rechnet per App, mit Grundgebühr und in Minuten ab, hat letztes Jahr an die 520 Millionen Franken umgesetzt, ist damit profitabel und beschäftigt über 900 Angestellte.
Die Akzeptanz nimmt stetig zu
In Zürich teilt sich Lime die Mikromobilitätsvermietung mit acht Wettbewerbern. Und doch verdoppelte das Unternehmen seine E-Bike-Flotte im April auf je 800 E-Bikes und E-Trottinette, die im Vergleich zum Vorjahr rund 25 Prozent öfter vermietet werden konnten.
Vor allem bei Fahrten in den Stadtkreisen 2, 3 und 8 sowie den Randzonen 9, 10 und 11 hätten sich die Velos bewährt, bestätigt der Regionalmanager Mathias Niederberger. Und er geht auch auf die Parkierproblematik ein: «Die Einrichtung erster fester Abstellflächen in der belebten Innenstadt hat die Situation stark verbessert. In den äusseren Bezirken arbeiten wir mit freien Abstellmöglichkeiten. Generell funktioniert dieses hybride Modell sehr gut.»
Man tausche sich regelmässig mit der DAV (Dienstabteilung Verkehr der Stadt Zürich) aus, habe auch eigene Parkierzonen in Betrieb genommen und achte andernorts auf den Mindestabstand.
Ein obligatorisches Foto nach dem Abstellen ist in der Nutzer-App implementiert und hat das Nutzerverhalten positiv beeinflusst. Für Batterietausch und Service setzt die Zürcher Lime-Niederlassung einen E-Van, Cargo-Bikes sowie je zwei Aussendienstler und Mechaniker ein. Das Gros delegiert Lime an externe Dienstleister, die die Zweiräder zur Basis zurückbringen oder wieder in der Stadt verteilen.
Der Glider soll frisches Wachstum bringen
Lime scheint gut organisiert, doch zuletzt 19 Prozent Neukundenanteil sind den Amerikanern offenbar nicht genug. Mit neuen Fahrzeugen will man jene erreichen, für die das bisherige Angebot nicht bequem genug ist. Es geht um ein Elektro-Fahrrad namens Lime Bike sowie ein elektrisches Gefährt ohne Pedale, das Lime Glider genannt wird und an das 2022 in Long Beach lancierte Pilotprojekt Citra erinnert.
Laut Lime sind Rückmeldungen von Kunden und unterrepräsentierten Nutzern bei der Konzeption der beiden Tiefeinsteiger berücksichtigt worden.
Das neue E-Bike weist Verbesserungen wie eine dank Klappbügel narrensichere, zehnstufige Sitzhöhenverstellung auf und dürfte das gegenwärtige Gen4-Modell mittelfristig ersetzen.
Abgesehen vom Sattel, von dessen Aufnahme und dem Elektromotor sind die in Asien produzierten Bikes und Glider baugleich, was die Zahl der Komponenten und damit die Kosten senkt. Dank moderner Silhouette und überarbeitetem Farbschema sehen sie flott genug aus, um Begehrlichkeiten zu wecken, auf ihnen durch die City zu düsen, ohne Kennzeichen- oder Helmpflicht, obwohl Lime grundsätzlich das Tragen von Helmen empfiehlt.
Die Zweiräder sind jeweils 176 Zentimeter lang und mit einem 1000W-Akku ausgerüstet. Wegen ihrer soliden Bauweise mit Aluminiumstarrrahmen sind sie rund 40 Kilogramm schwer. Immer mit an Bord sind LED-Frontbeleuchtung und -Schlusslicht mit Bremslichtfunktion sowie ein vorne angeordneter Gepäckkorb mit mehr als 15 Litern Fassungsvermögen; ein zusätzlicher Behälter am Heck soll eventuell folgen.
Dazu gibt es eine mechanische Klingel, grosszügig dimensionierte Kotflügel, einen stabileren Schieber-Handyhalter anstelle der bisherigen Gummimanschette sowie ein neues Farbdisplay.
Die Batteriekapazität wird jetzt mit von anderen Geräten bekannter Ladesymbolik angezeigt; bisher waren es Limettenscheiben, was bei manchen Nutzern offenbar für Irritationen sorgte. Dazu kommen eine unmissverständliche Geschwindigkeitsanzeige mit Ziffern sowie Hinweiszeichen für Parkierflächen, Fussgänger- oder No-go-Zonen.
Letzteres erfordert exakte Geodaten, die von einer leistungsstärkeren, ebenfalls von Lime entwickelten Software bereitgestellt werden. WLAN, GPS-Tracking gegen Diebstahl und Geofencing gehören dazu: Überfährt ein Lime-Fahrzeug den definiert-zulässigen Stadtbereich, bleibt es stehen.
Das E-Bike erreicht mit seinem 250W-Motor und 65 Nm Drehmoment maximal 25 km/h, der Handgas-Glider (500W, 65 Nm) hierzulande 20 km/h. Die Reichweiten werden mit 90 und 55 Kilometern angegeben, was bedeutet: Spätestens nach zwei Tagen im Mieteinsatz stehen Einsammeln und Batterietausch an.
Lime-Kunden in Zürich sind die ersten in Europa, die mit den neuen Modellen fahren können – das Bike wurde vor wenigen Tagen eingeführt, der Glider kommt voraussichtlich ab September. «Wir haben diese Stadt ausgewählt, weil die Auflagen in der Schweiz weniger strikt sind als in anderen europäischen Ländern», sagt der Hardware-Projektleiter Kevin Yu, der die Elektromobile gemeinsam mit einem 150-köpfigen Team in Los Angeles entwickelt hat und nach Zürich gereist ist, um den Schweiz-Launch vorzubereiten.
Parallel startet Lime sein neues Elektro-Velo in Atlanta und die Glider-Variante in Seattle. Das selektive Vorgehen offenbart Vorsicht: Derzeit gibt es nur wenige hundert Exemplare, mit denen man das Nutzungsverhalten studieren und anschliessend entscheiden will, wie es weitergeht.
Losfahren geht erst nach dem Eignungstest
Die NZZ hat Vorserienexemplare von Bike und Glider exklusiv getestet. Beide Fahrzeuge signalisieren im Parkiermodus mit einem grünen Ringlicht, dass sie verfügbar sind; während einer Mietung oder bei leerem Akku leuchten sie rot.
Nach dem Download der App und dem Scannen des QR-Codes folgt für Nutzer, die abends ein Lime mieten möchten, obligatorisch ein Reaktionstest: Wird nicht schnell genug gedrückt, gibt es keine Freischaltung. Mit dieser Massnahme will man den in letzter Zeit gestiegenen Unfallzahlen etwas entgegenwirken; Lime-Fahrzeuge sind haftpflicht- sowie unfallversichert (mit Selbstbeteiligung des Mieters).
Die Handhabung ist kinderleicht, das Losfahren auch, und die Ergonomie passt. Der erste Eindruck ist positiv – gegenüber einem E-Trottinett ist die Fahrt deutlich komfortabler. Die neu unter dem Sitz angeordnete Batterie erleichtert das Aufsteigen, verlagert aber auch den Schwerpunkt weiter nach hinten. Freihändig fahren verbietet sich also, allein schon wegen der relativ hohen Geometrie.
Doch sowohl Bike als auch Glider sind fahrdynamisch weit auf der gutmütigen Seite angesiedelt. Das gilt auch für ihre Trommelbremsen, die zwar nicht auf Scheiben-Niveau verzögern können, damit aber auch unfreiwilligem Absteigen nach zu plötzlicher Bremswirkung vorbeugen. Zudem gibt es keine Vollfederung. Für einen Hauch Komfort sorgen Speichenfelgen und Ballonreifen im 20-Zoll-Format, die auch Bahnschienen ihren Schrecken nehmen.
Fazit: Das Bike ist sportlicher, der Glider bequemer. Ein billiges Vergnügen sind beide allerdings nicht: Nach der Entsperrgebühr von 1 Franken werden pro Minute derzeit 45 Rappen fällig. Auf der Musterstrecke Zürich Hauptbahnhof–Quaibrücke wären das über 4 Franken. Mehrfachnutzer können über 50 Prozent sparen, wenn sie Minutenpakete für einen bestimmten Zeitraum im Voraus kaufen.
Mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist das Lime-Angebot nicht unbedingt vergleichbar, schliesslich kann man auf dem Zweirad immer bis zum Ziel rollen. Und ein Taxi hätte in der City mehr Zeit und Geld gekostet. Insofern könnte die neue Mikromobilität tatsächlich eine Lücke füllen.