Vom Käfer bis zum Golf hat der Volkswagen das deutsche Selbstverständnis seit 1945 geprägt wie wenige andere Konsumgüter. Ein Rückblick auf die seligen Jahre, als Mobilität noch eine Verheissung war.
Lange bin ich kein Besitzer eines Automobils gewesen. Es fuhren viele hundert Fahrzeuge an mir vorbei, bis eines hielt. Oder ich sprach die Reisenden auf Autobahnraststätten an. Einmal war es die Fahrerin eines Golfs GTI mit einem Karlsruher Kennzeichen. Wir fuhren einige hundert Kilometer gemeinsam. Sie war eine praktizierende Psychologin, ich hatte gerade Jean Amérys kompliziertes Buch über den Freitod gelesen.
Einmal berührte unser hochfliegendes Gespräch sogar ihr Auto, das sie schnell und konzentriert über die linke Spur bewegte. Sie habe es sich gekauft, weil sie glaube, dass die Ära des schnellen Fahrens bald zu Ende gehen werde. Daran wollte sie ein letztes Mal teilhaben.
Zum Erstaunen des Rests der Welt ist es beim schnellen Fahren auf deutschen Autobahnen geblieben. Umso bedrohlicher, dass der grösste deutsche Autobauer plötzlich bekanntgibt, in eine massive Absatzkrise geraten zu sein. Der «Volkswagen» nämlich heisst nicht nur so, er ist das Vehikel der deutschen Bürgerseele. Das Ende von VW wäre ungefähr so wie die Abschaffung des Beamtentums. Wir sind nicht alle Beamte, und wir fahren nicht alle VW, aber es muss doch Dinge geben, auf die man sich verlassen kann.
So wie man sich auf eine Mutter verlassen kann, nah am Herzen getragen. Das gehört zu meinen ersten Erinnerungen. Nicht den allerersten, die nur Bilder sind, sondern dort, wo die eigene Geschichte beginnt. Wir werden in der Innenstadt vom Schwimmkurs abgeholt. Das Schwimmbad liegt neben dem Krankenhaus, in dem ich geboren bin. Im VW Käfer ist nicht wirklich Platz für ein drittes Kind. Deshalb wird ihm erlaubt, sich in eine Art Krippe zu legen, eine Vertiefung unterhalb des Rückfensters. Ich kann in den Himmel gucken, auch wenn er schwarz ist. Unter mir der pochende Motor. Unmöglich zu hören, was meine älteren Geschwister reden. An diesem pochenden Motorherzen durch die Nacht gefahren werden verwandelt mich in ein cosmic child.
Symbol der Selbstzufriedenheit
Zur Taufe war ich noch in einem Messerschmitt-Kabinenroller gefahren worden, es gibt ein Foto davon. Gegen Ende der sechziger Jahre entschloss sich mein Vater, einen Ford 12 M zu kaufen. Es ist das unwiderstehliche Westauto, an das sich der sechsjährige Durs Grünbein zärtlich lehnt in einer Dresdener Sommernacht; zu sehen auf dem Cover seines Buchs «Die Jahre im Zoo». In den Jahren zwischen Töfftöff und Ford Taunus waren wir eine Käfer-Familie.
Wer einen Käfer fuhr, hatte nicht das zu kleine Los gezogen und strebte auch nicht sichtbar nach Höherem. Dieses Auto war das Hochplateau des sozialen Aufstiegs, wo sich alle trafen, der Metzger, der Lehrer, die Krankenschwester, der Verleger. Einmal besuchte uns ein wunderschönes junges Paar, beide mit braunen Augen, und auf die Motorhaube war in dekorativer Schrift geklebt: «Just married». Die Motorhaube war beim Käfer hinten.
Es war noch eines der frühen Modelle, das Rückfenster geteilt. Bei dem jungen Ehepaar sah es aus wie ein Herz. Dann, mit unserem Glück, unserer Fruchtbarkeit, unserer Verdrängung und unserer Westbindung, wurden die Fenster immer grösser. Dafür mussten sie in jeder Richtung gebogen werden. Dabei ging zweierlei verloren, nämlich die Verwandtschaft mit dem Porsche und der gewisse Unmut, dessen billiger Ableger zu sein.
Die letzte Serie wurde dann schon aus Brasilien reimportiert, ein unverschämt laut schmetterndes Auto mit der Anmutung eines Luftballons kurz vor dem Platzen. Ein junger Bundeswehrsoldat fuhr so ein gelbes Ungetüm in der Sonderausstattung «Jeans», was den Bezug der Sitze meinte. Da stieg dann meine Schwester ein und kam nicht mehr zurück.
Gnade der späten Geburt
Dass das «Volksauto» eine Eingebung des Hitlerregimes gewesen war, habe ich erst begriffen, als die VW längst moderne Kisten geworden waren, mit Vorderradantrieb, fünftem Gang und automatisch sich einziehenden Sicherheitsgurten. Wie merkwürdig, herauszufinden, dass Wolfsburg unter Hitler nicht so hiess, das hätte doch gut gepasst. Vorausschauend auf gleichgeschaltete Fernreisende, hatte man die Stadt bei ihrer Gründung 1938 «Stadt des KdF-Wagens» genannt, in Anlehnung an das zukünftige Auto des NS-Reisedienstes.
Bald schon schufteten Zwangsarbeiter in Schichten für die Kriegswirtschaft. Von «Kraft durch Freude» konnte keine Rede mehr sein. So erfuhr der Käfer die Gnade der späten Geburt; er war das Symbol der Rückkehr zur Zivilgesellschaft, freie Fahrt für freie Bürger. Das Bekenntnis zum Hedonismus staute sich im Aschenbecher. Als Karikatur eines von höchster Stelle dem Volk zugedachten Gefährts blubberte und stank auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs ein Zweitakter, dessen Anschaffung mehrere Jahresgehälter verschlang.
Was für eine Entdeckung dann, dass VW in Amerika Kult war. Der Käfer trendete zum Frivolen, der «Wi-dabbel-ju-Meikro-bass» war ein durch die Landschaft kriechender Joint. Auf Geschwindigkeit kam es gar nicht an, sehr wohl aber auf Verlässlichkeit. Der Hippietrend schwappte dann auch nach Westdeutschland über. Ein VW Bus hielt, das Paar langhaarig, ich stieg hinten ein.
Musik in Autos war 1978 noch eine Seltenheit. In der fahrenden Kammer aber waren grosse Boxen installiert, und es wurde etwas gespielt, sehr laut, das dröhnte und swingte und exzentrisch quietschte, lawinenhaft vorwärtstrieb, die Libido peitschte, etwas, das definitiv grösser war als ich selbst und dies auch bleiben würde. Ein anderer Schauplatz, eine Kunst ohne Künstlichkeit; und es roch nach Marihuana. Beim Aussteigen dann die Gelegenheit, einige Worte zu wechseln: «Was war denn das?» – «Miles Davis!»
Vor zwanzig Jahren in einem grossen, grünen Garten, die Luft warm und feucht, entdeckte ich drei exakt parallel parkierte, frisch auf Original lackierte VW Busse in jeweils verschiedenen Farben. Danach habe ich einen Pavillon des thailändischen Königshauses besucht, kann mich aber nicht erinnern, was ich darin gesehen habe. Die Busse meiner Kindheit waren einfach stärker.
Wer Familie hatte und Volkswagen treu geblieben ist, wechselte vom Käfer auf den Golf, vom Golf zum Passat. Einmal ging es der Autowirtschaft so schlecht, dass die Regierung sogar Geld verschenkt hat, damit man sich ein neues kauft. Während die Kommunen anfingen, das Auto zu bekämpfen wie den Teufel. Auf dem Weg wurde das imposante VW-Logo aufgeblasen zum Siegeszeichen am Kühlergrill, während das Blech aufging in den Formen des Mainstreams, von Opel oder Toyota kaum noch zu unterscheiden.
Stiller Niedergang
Auch VW hat versucht, aus dem Mythos Kraft zu ziehen – und auch Freude –, beginnend mit dem Käfer-Pastiche «New Beetle», später nur noch «Beetle». Sogar der Bus ist vor kurzem zurückgekommen in einer Art Lego-Modell, als vollelektrifizierter «ID Buzz». Im Konkurrenzkampf der Konzerne, und VW ist immer noch weltweit die Nummer 2, sind jedoch alle in dieselbe Richtung gefahren: höher, breiter, schwerer, schneller, die Luxusverpanzerung der Welt am mobilen Exempel.
Die Gerichtsverfahren um die Manipulation des Dieselmotors in der Schadstoffmessung sind immer noch nicht an ihr Ende gekommen. Martin Winterkorn repräsentiert nur noch sich selbst als lebendiges Wrack. Dass mit dem gewaltigen Stellenabbau die Strafe weitergegeben wird vom Management an die Belegschaft – biblisch gesprochen: von den Vätern an die Söhne –, ist eine naheliegende Deutung. Wahrscheinlich ist sie, wie viele Deutungen, die auf Empfindungen von Schuld basieren, ganz einfach falsch.
Volkswagen ist übrigens zu zwanzig Prozent ein Staatskonzern geblieben, indem dieser Anteil dem Land Niedersachsen gehört, inklusive der Produktionsstandorte Wolfsburg, Hannover, Emden, Braunschweig, Salzgitter und Osnabrück auf dessen Boden. Dieses Bundesland hat drei Jahrzehnte in der Politik geboomt, erkennbar bis heute in der Figur unseres Bundespräsidenten.
An den Autobahnen heissen die Länder ihre Reisenden genau auf der Grenze «willkommen», wobei die Mode der Länderslogans, jetzt «Claims» genannt, dazugekommen ist. Baden-Württemberg kam einmal auf die Selbstvermarktung: «Wir können alles. Ausser Hochdeutsch.» In Niedersachsen wurde lange, lange nachgedacht. Die Antwort lautet jetzt: «Niedersachsen. Klar.»
Der Schriftsteller Ulf Erdmann Ziegler lebt in Frankfurt am Main. Im Frühjahr wird im Wallstein-Verlag sein Roman «Es gibt kein Zurück» erscheinen.