Die Software Demand-Sens soll bald einen Bestseller mit einer Trefferquote von bis zu 99 Prozent Genauigkeit voraussagen. Für die Verlage könnte das Reichtum ohne Risiko bedeuten. Aber mit Nebenwirkungen.
Es klingt fast wie der Name dänischer Krimikommissare. Im Gegensatz zu diesen weiss man allerdings noch nicht, ob es für das Gute oder das Böse steht: Demand-Sens. Demand-Sens ist eine Software-Plattform, die ab Ende des Jahres Verlagen im deutschsprachigen Raum zur Verfügung stehen wird. Damit, so heisst es, kann man kinderleicht berechnen, ob ein Buch zum Bestseller wird. Die Voraussagegenauigkeit soll zwischen 85 und 99 Prozent liegen. Kein Wunder, dass sich die von Umsatzschwund und Krisenjahren gebeutelten Verlage die Hände reiben. Das neue Tool scheint so etwas wie Goldsuche mit Navi zu sein. Reichtum ohne Risiko. Aber mit Nebenwirkungen.
Mit voller Wucht könnten die Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz ein kulturelles Segment treffen, das bisher vor allem auf seine natürlichen Ressourcen stolz war. Auf die klugen Köpfe hinter den Büchern und in den Verlagen. Werden Autoren, Lektoren und Talent-Scouts von einer Software entmachtet und entmündigt, die alles besser und schneller weiss? Um fünf Milliarden Datensätze zu verarbeiten, braucht Demand-Sens 1,3 Sekunden.
Weichbild aus Gesellschaft und Leser
Wie funktioniert die angebliche Wunderwaffe Demand-Sens? Treibende Kraft ist das Unternehmen Media Control, das beim neuen Tool mit der Consulting- und Softwarefirma Bearing Point zusammenarbeitet. Schon lange stellt Media Control den Verlagen selbst erhobene Daten aus dem Buchmarkt zur Verfügung. Die Verkaufszahlen von über neuntausend Buchhandlungen und Online-Händlern bilden die Basis einer riesigen Datenmenge. Daraus lässt sich längst nicht nur erkennen, wie sich ein einzelner Titel verkauft und wo demnächst Lieferbedarf besteht oder nicht.
Media Control liest aus seinen Daten auch die grossen Trends auf dem Buchmarkt heraus. Man weiss beinahe tagesaktuell, was in welcher Zielgruppe ankommt und was auf Tiktok und anderen Kanälen gerade gehypt wird. Nicht auf der Gegenwart des Buchmarkts wird der Fokus von Demand-Sens liegen, sondern auf der näheren Zukunft. Mit dem im grossen Stil betriebenen Data-Mining der künstlichen Intelligenz lassen sich Erfolgsfaktoren von Büchern verknüpfen und transparent machen. Das Weichbild aus Gesellschaft und Leser kann ökonomisch ganz gezielt angesteuert werden.
Der Gipfel dieser Entwicklung: Schon im Entstehungs- und Akquisestadium von Büchern könnte eine Software darüber entscheiden, ob diese es überhaupt wert sind, gedruckt zu werden. Geht es nach den Erfindern von Demand-Sens, wird genau dies das nächste grosse Ding. Skeptiker und Kulturpessimisten warnen: Ist gute und innovative Literatur nicht eigentlich, was gegen den Trend geschrieben wird? Wer braucht einen Konkurrenzkampf von lauter konfektionierten Bestsellern?
Man muss nicht romantisch verklären, was in den vordigitalen Zeiten geschehen ist, aber eine KI, die in Sekundenschnelle das «Ulysses»-Manuskript von James Joyce auf Verkaufbarkeit prüfen würde, um es dann von den Lektoratsschreibtischen zu fegen, ist eine horrible Vorstellung. Vielleicht käme das vernichtende Votum auch noch früher: 20 000 Arbeitsstunden für einen einzigen Roman? Lass es sein!
Überall droht Gefahr
Büchermachen ist ein Hochrisikogeschäft. Geht es um literarische Debüts, investiert man in Autoren, die noch niemand kennt. Den Autoren werden Vorschüsse gezahlt. Sie sind nach den Chancen berechnet, die man dem Buch auf dem Markt gibt. Dann wird gedruckt. Wie hoch soll die erste Auflage sein? Wer das Potenzial richtig einschätzt, kann hier schon Kosten sparen. Wird das Buch von den Buchhandlungen in grösserer Stückzahl geordert, dann droht auch hier Gefahr. Was nicht verkauft wird, geht in die Lager der Verlage zurück.
Es kann Monate dauern, bis man weiss, wie viele Exemplare eines Romans oder Sachbuchs tatsächlich bei den Lesern gelandet sind. Wenn der Literaturbetrieb wegen der Shortlist des Deutschen Buchpreises für ein paar Wochen im Jahr hochkocht, ordern analoge und Online-Buchhändler die entsprechenden Titel in grosser Zahl. Weil aber nur einer gewinnen kann, sind die anderen Romane von der Liste bald schon Bücher wie alle anderen auch. Man lädt die nicht verkauften Bestände in den LKW, und es geht ab in die Heimat.
Die neuesten Daten des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels passen zum dystopischen Szenario, das sich mit Demand-Sens abzeichnet. Schon 2021 war ein Trend zu erkennen, dass sich das Geschäft immer weiter auf die Bestseller verengt. Damals wurden in Deutschland 273 Millionen Bücher verkauft, die aber nur auf eine Million Titel verteilt waren.
Davon, dass die Diversität schwindet, künden auch die Daten des Jahres 2023. Die Zahl der neu auf den Markt gebrachten Buchtitel ist auf den neuen Tiefststand von 60 230 gesunken. Ein Jahr davor waren es noch 4000 mehr. Dass die Verlage das Risiko minimieren, kann man auch daran erkennen, dass es immer weniger neu übersetzte Bücher gibt. Innerhalb des Vorjahres haben sich die Zahlen um 10 Prozent reduziert.
Insgesamt hat sich das Buchgeschäft leicht erholt, aber es zeigt ein sehr besonderes Phänomen: Immer weniger Menschen lesen Bücher, die aber lesen dafür mehr. Es gibt also nicht nur einen Rückgang der Bücher-Diversität, sondern auch der Leser-Diversität. Spezielles und Nonkonformistisches hat es auf diesem Markt immer schwerer. Kleine Häuser der Buchproduktion sind vom Verschwinden bedroht, und bei den grossen Verlagen könnte auf der Suche nach Gewinnen die berühmte Querfinanzierung unter die Räder kommen.
Wollen alle lesen, was viele lesen?
Dass ein Kehlmann-Bestseller gleich mehrere weniger gut zu verkaufende, aber deshalb nicht schlechtere Romane mitfinanzieren soll, war bisher verlegerische Ehrensache. Mit den neuen KI-Modellen könnte sich allerdings auch die klassische Rolle des Verlegers radikal ändern. Vor vierzig Jahren hat Siegfried Unseld, der Herrscher über den Suhrkamp-Verlag, in einem sehr persönlichen Essay noch sehr verschämt vom «Warencharakter» des Buches gesprochen und von den damit verbundenen Widersprüchen. «Mit Haut und Haaren materiell» hafte er für sein Unternehmen, meinte Unseld. Aber es gebe auch eine Aufgabe, die «politisch, moralisch, intellektuell» sei. Man müsste die Verleger am Schlips der Ehre packen, solange es diese Ehre noch gibt.
Wollen alle das lesen, was viele lesen? Bestsellerlisten haben einen aufmerksamkeitsökonomischen Turbo in sich. Was sich gut verkauft, verkauft sich noch besser. Es wundert nicht, dass Media Control auch zuständig ist für den Branchenmassstab namens «Spiegel»-Bestsellerliste. Sie wird mit den Daten aus den Warenwirtschaftssystemen buchhändlerischer Verkaufsstellen zusammengestellt. Wenn es darum geht, Erfolgschancen von Gedrucktem zu prognostizieren, kennen die KI-Verfechter einen wichtigen Begriff: «sentiment analysis». Mit den Tools der künstlichen Intelligenz wird in die Gesellschaft hineingehorcht, um schliesslich die Stimmungen bei potenziellen Lesern zu kapitalisieren. Man kommt dem Leser und seinen Wünschen und Gewohnheiten möglichst weit entgegen.
Die Bestsellerlisten sind eine Art analoge Ergänzung zum Treiben der KI. Jörg Magenau hat in seinem Buch «Bestseller: Bücher, die wir liebten – und was sie über uns verraten» mit einem historischen Rückblick dargelegt, dass die populärsten Bücher auch immer etwas über die Zeiten aussagen, in denen sie erscheinen. In ihnen stecken auch die Ängste und Träume der Gesellschaft. Nachgerade idyllisch erscheinen die Jahre, in denen auf der «Spiegel»-Sachbuchliste die Themen Wald und Darm beherrschend waren und bei der Belletristik Romane über Bienen. Heute sind Bücher über Autokraten die grossen Renner – oder Psychothriller. Es ist eine ungemütliche Welt. Das merkt man den Büchern an, und dafür braucht es nicht einmal die «sentiment analysis» der künstlichen Intelligenz.
Noch ein Stimmungsbild aus der Branche, das vielleicht mehr Analyse brauchte als alles andere: Immer mehr junge Menschen finden gar nicht erst Zugang zu Büchern, «weil sie nicht sinnentnehmend lesen können», wie die Börsenvereins-Chefin Karin Schmidt-Friderichs das ausdrückt. Neben dieser Bildungskatastrophe wirken Debatten über die Gefahr der künstlichen Intelligenz nur kleinlich.