Das Bundesgericht hat ein neues Phänomen in der Pflege ausgelöst. Laut Krankenkassenvertretern kostet dies heuer schon etwa hundert Millionen Franken und könnte bald noch weit teurer werden.
Ist dem Bundesrat der Ernst der Lage wirklich bewusst? Das fragt der Zuger Mitte-Ständerat Peter Hegglin in einer Interpellation, die nächste Woche im Ständerat traktandiert ist. Hegglin bringt mit seinem Vorstoss ein Thema auf den Tisch, das seit einiger Zeit im Gesundheitswesen für Kontroversen sorgt.
Man stelle sich vor, dass eine Rentnerin ohne Pflegequalifikation unentgeltlich ihren Ehemann pflegt. Plötzlich entdeckt sie einen Weg, die Rente aufzubessern: Sie lässt sich von einer privaten Firma anstellen und erhält für die Pflege ihres Mannes einen Stundenlohn von 30 bis 40 Franken. Die Firma bekommt von der Krankenversicherung für Leistungen der Grundpflege einen Beitrag von 52.60 Franken pro Stunde. Hinzu kommt die Restfinanzierung von Kantonen oder Gemeinden, die oft 20 bis 30 Franken pro Stunde ausmacht. So erhält die Firma total 70 bis 85 Franken.
Laut Hegglin schiessen derzeit Firmen, die pflegende Angehörige anstellen und einen Teil der Gelder von Krankenkassen und Steuerzahlern als Marge abschöpfen, «wie Pilze aus dem Boden». Er befürchtet einen finanziellen «Flächenbrand». Der Krankenversicherungsverband Santésuisse hat laut eigenen Angaben rund dreissig Firmen identifiziert, die sich auf dieses «lukrative Geschäft» mit der Angehörigenpflege spezialisiert hätten und zum Teil in ausländischem Besitz seien.
Kantone regeln Zulassung
Solche Spitex-Anbieter können nur bei entsprechender Zulassung durch die Kantone über die Krankenkassen abrechnen. Selbst die auf die Grundpflege durch Angehörige spezialisierten Anbieter brauchen Fachpersonal – zur Feststellung des Pflegebedarfs in jedem Einzelfall sowie zur Instruktion und Überwachung der pflegenden Angehörigen. Es hängt massgeblich vom Aufwand für diese Tätigkeiten ab, wie viel von der Bruttomarge der Anbieter netto noch in der Kasse bleibt.
Der Trend hinterlässt zunehmend finanzielle Spuren. Noch 2021 hatten Abrechnungen von Firmen mit dem genannten Geschäftsmodell laut Santésuisse erst wenige Millionen Franken ausgemacht, im laufenden Jahr werde die Summe schätzungsweise schon gut hundert Millionen Franken erreichen. Bei fortgesetztem Trend könnten es laut Santésuisse schon bald mehrere hundert Millionen Franken pro Jahr sein.
Bundesgericht als Auslöser
Der Haupttreiber des Phänomens war gemäss Beteiligten das Bundesgericht. Ein Gerichtsurteil von 2019 hat klargestellt, dass nach geltendem Recht Leistungen in der Grundpflege über die Krankenversicherungen abgerechnet werden können, auch wenn die Pflegeperson keine spezielle Pflegeausbildung absolviert hat. Und im Mai 2024 befand das Bundesgericht, dass das Gleiche auch für die psychiatrische Grundpflege gilt. Das neuere Urteil dürfte den Trend der letzten Jahre noch verstärken.
Was zur Grundpflege gehört, ist in der Krankenpflege-Leistungsverordnung des Innendepartements definiert. Laut der Verordnung betrifft die allgemeine Grundpflege gewisse Tätigkeiten, welche die Patienten nicht selber ausführen können. Zu den genannten Tätigkeiten gehören unter anderem Beine einbinden, Kompressionsstrümpfe anlegen, Betten/Lagern, Bewegungsübungen, Hilfe bei der Mund- und Körperpflege, beim An- und Auskleiden, beim Essen und Trinken. Zur psychiatrischen Grundpflege gehören «Massnahmen zur Überwachung und Unterstützung psychisch kranker Personen in der grundlegenden Alltagsbewältigung». Genannte Tätigkeiten: Erarbeitung einer Tagesstruktur, Training zur Gestaltung sozialer Kontakte sowie Unterstützung beim Einsatz von Orientierungshilfen und Sicherheitsmassnahmen.
Für Verärgerung sorgt der Trend der letzten Jahre auch im Pflegesektor. Der Zürcher Pflegefachmann Patrick Hässig sitzt für die Grünliberalen im Nationalrat und will in der Dezembersession zwei Vorstösse zu diesem Thema einreichen. Er kritisiert nicht grundsätzlich, dass pflegende Angehörige einen Lohn bekommen können – vor allem, wenn sie als Folge ihrer Pflegeaufgaben ihre Erwerbstätigkeit reduzieren müssen. Ein Ärgernis ist es aber für ihn, wenn Geschäftsmodelle mit pflegenden Angehörigen ohne Fachqualifikation aufgrund der geltenden Tarife hohe Margen zulasten von Krankenkassen und Steuerzahlern ermöglichen.
So will Hässig fordern, dass es bei den Pflegegrundleistungen von Angehörigen ohne Fachqualifikation tiefere Tarife gibt. Dies zum einen wegen des Qualifikationsunterschieds zu den Fachpersonen und zum anderen auch darum, weil Angehörige keine Wegkosten haben, wenn sie im gleichen Haushalt wie die gepflegte Person wohnen. Die Idee eines Sondertarifs entspricht auch einem Wunsch der Krankenkassen.
Ausbildung verlangt
Auch öffentliche Spitex-Organisationen stellen pflegende Angehörige ein. Dies sagt der Verband Spitex Schweiz. Aber man verlange von den Angehörigen für die Grundpflege mindestens einen Pflegehelferkurs oder eine gleichwertige Ausbildung; ein solcher Kurs sei in drei Monaten nebenamtlich absolvierbar – mit total etwa 120 Stunden Lernzeit plus einem zweiwöchigen Praktikum. Spitex Schweiz fordert verbindliche Rahmenbedingungen für die Anstellung von pflegenden Angehörigen – insbesondere bezüglich Qualitätssicherung.
Gibt man bei einer Suchmaschine im Internet die Stichworte «pflegende Angehörige» ein, erscheinen zuoberst Inserate, die mit einer Anstellung locken. Zum Beispiel von der Firma Pflegewegweiser, die einen Stundenlohn von brutto 37.90 Franken in Aussicht stellt. Die Firma gehört zur deutschen Gruppe Entyre und hat laut eigenen Angaben zurzeit rund 1500 pflegende Angehörige unter Vertrag. Von diesen hätten etwa 10 Prozent vor der Anstellung eine Pflege-Fachqualifikation gehabt.
Die Firma betont, dass bei ihr im Unterschied zu gewissen anderen Anbietern die Angehörigen innert zwölf Monaten nach der Anstellung einen Pflegehelferkurs erfolgreich absolvieren müssten; der genannte zeitliche Lernaufwand einschliesslich Praktikum ist annähernd deckungsgleich mit den Angaben von Spitex Schweiz. Abgesehen von den Angehörigen beschäftigt Pflegewegweiser laut eigenen Angaben rund sechzig diplomierte Pflegefachkräfte, die regelmässig Hilfestellung leisten, sowie zehn Fachpersonen Gesundheit.
Die Verantwortungsfrage
Die Diskussion um die Angehörigenpflege ruft auch nach einer breiteren gesellschaftlichen Grundfrage – über das Ausmass der privaten Verantwortung für die Verwandtenunterstützung. 2023 verlangte ein parlamentarischer Vorstoss, dass Betreuungsleistungen für enge Verwandte grundsätzlich nicht entschädigt werden. Der Nationalrat lehnte den Vorstoss knapp ab. Noch hängig ist ein weiterer Vorstoss von 2023, der die Abrechnung von Pflegeleistungen via obligatorische Krankenversicherung nur mit bestimmten Vorgaben etwa bezüglich Qualität zulassen will. Der Bundesrat hat für Mitte 2025 einen Bericht zur Angehörigenpflege in Aussicht gestellt. Er geht zurzeit nicht von einem dringenden Handlungsbedarf aus.
Laut Bundesangaben wurden 2023 in der Schweiz rund 415 000 Personen von Spitex-Anbietern gepflegt. Zu den Anbietern gehörten 500 gemeinnützige/öffentlichrechtliche Unternehmen, knapp 460 privatwirtschaftliche Unternehmen sowie 1600 selbständige Pflegefachleute. Die öffentlichrechtlichen Anbieter rechneten 2022 im Mittel 47 Pflegestunden pro Patient ab, bei den privatwirtschaftlichen Unternehmen waren es 104 Stunden. Gemäss einer vom Bund bestellten Studie übernahmen 2017 rund 600 000 Personen Pflege- oder sonstige Betreuungsdienste für Nahestehende.