Sie sind schon für die Eliteuniversitäten Oxford und Yale gerudert und passen im Zweier ohne perfekt zusammen. Roman Röösli und Andrin Gulich gewinnen an den Olympischen Spielen in Paris die einzige Schweizer Ruder-Medaille.
Der Ruderer Andrin Gulich erzählt, er sei an diesem Tag wie an jedem anderen aufgestanden. «Wir haben das Rennen wie einen normalen Wettkampf im Weltcup genommen. Das ist uns ziemlich gut gelungen», sagt der 25-jährige Zürcher. Gulich gibt sich locker, blendet aus, dass er soeben den wichtigsten Wettkampf seiner Karriere bestritten hat.
Mit seinem Bootspartner Roman Röösli steht Gulich im Final im Zweier ohne – alles andere als eine Medaille wäre eine Enttäuschung; Gulich und Röösli sind bereits Welt- und Europameister geworden. Sie reüssieren auch im Olympiafinal, rudern zu Bronze, gewinnen die einzige Ruder-Medaille an diesen Spielen für die Schweiz. Geschafft haben sie das, indem sie sich nicht aus der Ruhe bringen liessen. Auch als sie nach verkorkster Qualifikation den Einzug in den Halbfinal erst über den Hoffnungslauf schafften. Die Lockerheit haben sich die beiden in der Fremde geholt.
Kopf lüften in Oxford – und das Boat Race gegen Cambridge gewinnen
Es ist Sommer 2021, der Luzerner Röösli hat an den Olympischen Spielen in Tokio im Doppelzweier ein Diplom errungen. Doch er fühlt sich leer, sucht eine Perspektive. Er rudert schon jahrelang im Leistungszentrum von Swiss Rowing in Sarnen, daneben studiert er Geografie und Betriebswirtschaft an der Universität Bern. «Ich war etwas lange in dieser Mühle drin und spürte, dass ich etwas anderes machen muss», sagt Röösli Ende Mai an einem Treffen mit der NZZ am Rotsee.
Röösli findet diese Veränderung, den Tapetenwechsel, in Oxford. Die britische Eliteuniversität hat auch in der Ruderszene einen klangvollen Namen. 2022 sitzt Röösli im Achter von Oxford und triumphiert am legendären Boat Race auf der Themse über die Universität Cambridge. In der Zeit in England habe er aber auch das Studentenleben geniessen können, sagt Röösli. Ausserdem absolviert er das Masterstudium in Wassermanagement. In Oxford steht bei ihm Rudern nicht mehr allein im Zentrum. Rööslis Kopf wird frei, er wird lockerer, ohne dass die Form im Sport gross leidet. «Ich habe erfahren, dass sich die Welt auch ohne Rudern weiterdreht. Als ich zurückgekommen bin, fühlte ich mich frisch und hungrig», sagt Röösli.
Röösli ist mittlerweile 30 Jahre alt, ein Routinier. Im Team nennen sie ihn «Urgrossvater». Er weiss bei der Rückkehr aus Oxford, dass er in Paris die wohl letzte Chance auf eine Olympiamedaille haben würde, seinen grossen Bubentraum. Die Verwirklichung dieses Traums nimmt er mit Andrin Gulich in Angriff. Der war zuvor nie Teil des Leistungszentrums in Sarnen gewesen, sondern absolvierte das Gymnasium in Zürich und danach die U-23-Jahre an der amerikanischen Eliteuniversität Yale. «Aus Amerika hat er noch mehr Lockerheit in unser Team gebracht», sagt Röösli.
Die Schweizer trainieren so viel wie kaum jemand anders
Die Plätze in einem Ruderboot zu verteilen, ist eine diffizile Angelegenheit, besonders in einer technischen Bootsklasse wie dem Zweier ohne. Weil jeder Athlet nur einen Riemen durch das Wasser pflügt, braucht es ein fein austariertes System, um schnell zu sein. Um herauszufinden, welche Konstellation in den einzelnen Bootsklassen am meisten Erfolg verspricht, führt Swiss Rowing jeweils sogenannte Trials durch und erhebt dort eine Vielzahl von Daten als Entscheidungsgrundlage.
Bald stellt sich heraus, dass Röösli und Gulich ideal zusammenpassen. Sie sind nahezu gleich gross, ziehen den Riemen technisch ähnlich und mit der gleichen Explosivität durch das Wasser. Auch menschlich verstehen sich die beiden, das sei wohl das Wichtigste, sagen sie. Auch während harter Trainings klopfen sie Sprüche, motivieren sich gegenseitig. «Wir versuchen die Sache ernst zu nehmen, dafür uns selbst nicht so», sagt Röösli.
Rudern ist nicht nur eine technisch anspruchsvolle Sportart, sondern beinhaltet auch viel Detailarbeit. Röösli sagt, wolle man am Riemenschlag etwas verändern, müsse man dieselbe Bewegung 20 000 Mal ausgeführt haben. Das könne zermürbend sein.
Unter der Führung des neuseeländischen Coachs Ian Wright bolzen die Schweizer Ruderinnen und Ruderer Trainingsumfänge, die so gross sind wie in kaum einer anderen Nation. Für Röösli und Gulich bedeutete das in den letzten zwei Jahren: drei Trainings à mindestens zwei Stunden täglich an sechs Tagen in der Woche.
Ablenkung findet Gulich im Wirtschaftsstudium, Röösli hilft manchmal in einer Schreinerei aus. «Früher habe ich an freien Tagen manchmal eine Skitour gemacht, aber das schaffe ich heute nicht mehr», sagt Röösli.
Röösli behält den Überblick und treibt Gulich an
Die Strapazen zahlen sich bald aus, im zweiten gemeinsamen Rennen werden die beiden Europameister, im Jahr darauf sind sie Weltmeister, träumen von einer Olympiamedaille. Gulich sagt über Röösli, der sei früher sein grosses Vorbild gewesen: «Er hat uns jungen Ruderern gezeigt, dass wir auch als Schweizer gross träumen dürfen.»
In Paris erreichten die beiden nun den grössten Erfolg der Karriere; seit 1972 und den Spielen in München gab es für die Schweiz keine Medaille mehr in dieser Bootsklasse. Röösli sagt: «Es hat Spass gemacht mit Andrin, aber unglaublich viel Energie gekostet.» Ob er weitermachen wird, ist offen.
Der Final in Paris ist hochkarätig besetzt, die Schweizer Bronzemedaille erkämpft. Nach 1000 Metern, der Hälfte der Distanz, schiesst das Laktat in die Beine. Gulich sagt: «Alles im Körper will aufhören zu rudern.» In solchen Situationen treibt ihn sein Bootspartner an, den Gulich nicht sieht. Röösli behält die Gegner im Blick, sagt Zwischensprints an, bestimmt die Taktik. Gulich sagt: «Ich wollte Roman nicht hängen lassen. Ich vertraue ihm blind.»
Manchmal steigen die beiden zusammen auf eine Alphütte im Kanton Obwalden. Dort gebe es die besten Älplermagronen der Welt und erst noch à discrétion, versichern sie. «Wo das ist, darf man aber nicht schreiben, sonst ist dann jeder dort oben», sagt Röösli und lacht. Im Gespräch mit dem Duo blitzt immer wieder diese Lockerheit auf, die sie aus der Fremde mitgebracht haben. Und die sie zu Olympiabronze geführt hat.