Der selbständige Arzt in der Einzelpraxis ist ein Auslaufmodell. Geht er in den Ruhestand, müssen sich die Patienten mühsam umorientieren. Unsere Autorin hat genau das erlebt. Ein Beitrag aus der Rubrik «Hauptsache, gesund».
Es ist so weit. Der Moment, den ich seit mehreren Jahren abwechselnd gefürchtet und verdrängt habe, ist eingetreten: Mein Hausarzt hat seine Praxis geschlossen. Bis ins Pensionsalter hinein hat er seine Patienten betreut und dabei vor allem Ruhe und Gelassenheit verströmt.
Sass ich mit starker Erkältung vor ihm, hielt er mir einen Vortrag über die Grossartigkeit des menschlichen Immunsystems und empfahl mir, ohne Umweg über die Apotheke direkt ins Bett zu gehen. Mein Körper brauche eine Auszeit, der Rest erledige sich von selbst. Hatte ich doch einmal – selten – etwas Behandlungsbedürftiges, informierte er mich sachlich und beantwortete geduldig meine Nachfragen.
Nicht immer waren wir einer Meinung, aber jedenfalls aus meiner Perspektive kann ich sagen: Kleine Differenzen haben unsere Arzt-Patienten-Beziehung letztlich nur stärker gemacht. Und deshalb blieb ich bei ihm und suchte mir im Gegensatz zu manch anderen seiner Patienten keinen neuen Hausarzt – auch dann nicht, als absehbar war, dass er seinen Beruf bald aufgeben würde. Jetzt stehe ich da, mit einer Handvoll Befunden, die ich in eine andere Praxis tragen muss. Denn mein Arzt hat keinen Nachfolger.
Und damit bin ich in einer typischen Situation. Ein selbständiger Arzt mit eigener Praxis – dieses Modell ist in Deutschland und der Schweiz rückläufig. Das zeigt ein Blick in die Statistik des Schweizerischen Ärzteverbands FMH: 2013 seien 59 Prozent der Ärztinnen und Ärzte in Einzelpraxen tätig gewesen, 2023 nur noch 44 Prozent. Der Hausarzt in der Einzelpraxis sei ein Auslaufmodell, schreibt denn auch der Schweizer Verband der Haus- und Kinderärzte MFE. In Deutschland ist es ähnlich. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung stellt fest: «Vor allem niedergelassene Ärzte im hausärztlichen Bereich haben Schwierigkeiten, einen Nachfolger zu finden.»
Die Gründe sind vielfältig. Häufig wird die zunehmende Bürokratisierung genannt, die Ärztinnen und Ärzten die Lust auf die eigene Praxis vermiest. Zudem seien viele Mediziner nicht mehr bereit, ein volles Pensum zu arbeiten. Laut dem Schweizerischen Ärzteverband nimmt das Arbeitspensum seit einigen Jahren stetig ab, die deutsche Bundesärztekammer berichtet von derselben Entwicklung. Kein Wunder, dass Praxisinhaber grosse Probleme haben, einen Nachfolger zu finden, der die Praxis allein übernehmen will. Die vertraute Ansprechperson für seine Patienten zu sein, bedeutet eben auch, hundert Prozent und mehr zur Verfügung zu stehen. Eine Teilzeitstelle mit weniger Bürokratie lässt sich besser in einem Angestelltenverhältnis realisieren.
Diese Entwicklungen mögen dazu beigetragen haben, dass die Praxis meines Hausarztes nun leer stehen wird. Die genauen Hintergründe kenne ich nicht, typisch bleibt die Geschichte trotzdem.
Und jetzt? Wahrscheinlich gehe ich in eine grössere Hausarztpraxis, in der auch Ärztinnen und Ärzte im Angestelltenverhältnis arbeiten. Es war kein Selbstläufer, dort unterzukommen – Stichwort Ärztemangel. Wird es dort unpersönlicher? Ich weiss es nicht. Klar für mich ist: Eine Ära ist zu Ende gegangen.
Einen Arzt wie meinen bisherigen werde ich wahrscheinlich nie wieder finden. Er war ein Familienarzt. Vom Säugling bis zum Greis behandelte er alle, die medizinischen Rat benötigten. Direkt über der Praxis hatte er seine Wohnräume, im Garten rund um die Behandlungsräume gackerten seine Hühner, die er vor allem den kleinen Patienten gerne zeigte. Der Gang über seine Schwelle fühlte sich mehr und mehr an wie eine Reise in die Vergangenheit. Bald beginnt die Zukunft. Sie muss nicht schlechter sein. Anders wird sie auf jeden Fall.
In der wöchentlichen Rubrik «Hauptsache, gesund» werfen die Autorinnen und Autoren einen persönlichen Blick auf Themen aus Medizin, Gesundheit, Ernährung und Fitness. Bereits erschienene Texte finden sich hier.
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