Fahren energieintensive Unternehmen in Krisenphasen ihren Verbrauch zurück, liesse sich der Bedarf für Reservekraftwerke substanziell vermindern. Warum stellt sich der Bundesrat quer?
Bundesrat Albert Rösti macht ernst mit der Versorgungssicherheit: Er plant den Bau von mehreren grossen fossilen Reservekraftwerken, die die bereits bestehenden Gaskraftwerke in Birr, Cornaux und Monthey ab 2026 ersetzen sollen. 400 Megawatt sollen die neuen Anlagen im Notfall leisten. Und dafür sorgen, dass die Schweiz trotz volatiler Sonnenenergie immer genug Strom im Winter hat.
Doch wie sich nun zeigt, verursacht Röstis Versicherungslösung gegen Blackouts horrende Kosten. 2,6 Milliarden Franken verlangte die Strombranche insgesamt für die Bereitstellung von 590 Megawatt Reserveleistung, wie die «NZZ am Sonntag» berichtete. Berappen müssten diese Kosten die Stromkundinnen und Stromkunden. Für den Bundesrat ist damit die Schmerzgrenze überschritten: Mitte Juni brach er die Ausschreibung für die Reservekraftwerke kurzerhand ab. Das Bundesamt für Energie will nun Direktverhandlungen mit allen potenziellen Anbietern führen – in der Hoffnung, den Preis auf diese Weise drücken zu können.
Kein Gehör für Vorschläge der Industrie
Kritik am Prestigeprojekt von Albert Rösti kommt nun allerdings ausgerechnet aus der Industrie. So wirft der Wirtschaftsverband Swissmem dem Bundesrat vor, er habe es verpasst, Alternativen zu den teuren Reservekraftwerken zu prüfen. «Seit dem Krisenwinter 22/23 versuchen wir die zuständigen Stellen beim Bund davon zu überzeugen, nicht nur die Angebots-, sondern auch die Nachfrageseite mitzuberücksichtigen», sagt der Swissmem-Vizedirektor Jean-Philippe Kohl. Doch gehört habe man vom Bund wenig.
Konkret schlägt Swissmem eine sogenannte Verbrauchsreserve vor. Gemeint ist damit, dass Grossverbraucher – etwa Stahlwerke oder Giessereien – ebenfalls an der Ausschreibung für die Stromreserve teilnehmen können. Zeichnet sich eine Notlage ab, würden die sich dazu verpflichteten Unternehmen ihre Last reduzieren oder ihre Produktion ganz einstellen. Für ihren Beitrag zur Bewältigung einer Mangellage erhielten die Unternehmen vom Bund dann eine Entschädigung. «Es handelt sich dabei um eine günstige Massnahme, die den Bedarf an Reservekraftwerken vermindern würde», betont Kohl. Bei einem Engpass könnten zudem auch CO2-Emissionen vermieden werden.
Die energieintensiven Unternehmen sehen sich mit dem gegenwärtigen Regime der Stromreserve doppelt benachteiligt. Sie müssen den Netzzuschlag berappen, mit dem der Bund die teure Stromreserve finanziert. Zeichnet sich jedoch wie im vorletzten Winter eine Energiekrise ab, sind sie aufgrund der explodierenden Strompreise gezwungen, den Betrieb einzustellen, da sich die Produktion nicht mehr lohnt. «Diese Unternehmen wenden für die Stromreserve jährlich Millionenbeträge auf, ohne dass sie dann den Strom in der Notlage brauchen können», sagt Kohl. Er verlangt, dass industrielle Grossverbraucher deshalb vom Netzzuschlag befreit werden, wenn diese ihren Betrieb im Falle einer Strommangellage reduzieren oder einstellen.
Doch der Bundesrat zeigt bis jetzt kein Gehör für die Forderungen der Industrie. Das neue Stromgesetz, welches das Stimmvolk im Juni guthiess, sieht Ausschreibungen für eine Verbrauchsreserve zwar ausdrücklich vor. Doch setzt der Bundesrat diese Bestimmungen nicht um: Sie werden in den Verordnungsentwürfen bloss als Möglichkeit erwähnt; eine detaillierte Ausgestaltung jedoch sucht man dort vergeblich.
Auch in der Vorlage für eine Stromreserve, die sich derzeit in der parlamentarischen Beratung befindet, verzichtete der Bundesrat darauf, eine zwingende Verbrauchsreserve im Gesetzestext zu verankern. Darin bleibt es dem Bundesrat überlassen, einen solchen Einbezug vorzusehen. Die Landesregierung kam jedoch vor einem Jahr nach einer Prüfung zum Schluss, dass die dazu nötige Regelung komplex wäre und sich negativ auf freiwillige Sparmassnahmen auswirken könnte.
Wie gross das Potenzial einer solchen Verbrauchsreserve ist, hat Swissmem im Herbst 2022 erhoben. In einer Umfrage bei den Mitgliedfirmen erklärte sich rund ein Dutzend Industriefirmen zu einer Lastreduktion in den Wintermonaten bereit. In den Monaten von Januar bis April 2023 hätten damit im Notfall 160 Gigawattstunden Strom eingespart werden können. Zum Vergleich: Die Wasserkraftreserve, an der 14 Betreiber von Speicherkraftwerken beteiligt sind, beträgt pro Winter 400 Gigawattstunden. «Die Industrie könnte substanzielle Mengen beisteuern», sagt Kohl, «doch hat sich der Bundesrat nicht dazu durchgerungen, dass sich grosse industrielle Stromnachfrager an entsprechenden Ausschreibungen beteiligen können.»
Die Vorschläge der Industrie finden im bürgerlichen Lager Zuspruch. «Ich halte die Einführung einer Verbrauchsreserve für eine sehr valable Option», sagt die St. Galler FDP-Nationalrätin Susanne Vincenz-Stauffacher. Es sei richtig, dass Unternehmen, die bereit seien, ihren Stromkonsum in Krisenphasen zu reduzieren, entschädigt würden. Ob diese Firmen vom finanziellen Aufwand für die Stromreserve vollumfänglich befreit werden sollen, hält die Ostschweizer Politikerin hingegen für diskutabel. Irgendwer müsse diese schliesslich finanzieren.
Röstis Vorgehen auf wackeliger rechtlicher Grundlage
Derweil stösst auch der Plan von Bundesrat Rösti, nun mit den Stromversorgern direkt über die Notkraftwerke zu verhandeln, auf Kritik. «Dieses Vorgehen geschieht auf einer sehr wackeligen rechtlichen Grundlage», sagt Léonore Hälg von der Schweizerischen Energiestiftung (SES). Es sei unverständlich, weshalb der Bundesrat auf Biegen und Brechen an den thermischen Reservekraftwerken festhalten wolle. Tatsächlich sieht die Winterreserveverordnung, die vom Bundesrat per Notrecht eingeführt wurde, keine Direktvergaben im freihändigen Verfahren vor. Ebenso ist in der Vorlage für eine Stromreserve nur von Ausschreibungen die Rede – nicht aber von freihändigen Direktvergaben.
Das Bundesamt für Energie (BFE) hält auf Anfrage fest, dass eine Neuausschreibung der Reservekraftwerke nicht infrage komme. Zu dringlich und wichtig sei die Angelegenheit. Auch könnte mit denselben Rahmenbedingungen finanziell und zeitlich keine signifikante Verbesserung der Projekte erreicht werden. In den Verhandlungen mit den potenziellen Anbietern will das BFE gemäss eigener Aussage nach Möglichkeiten suchen, die Kosten massiv zu senken und die Projekte zu beschleunigen. Man werde dabei dem Prinzip der Gleichbehandlung aller Interessenten Rechnung tragen.