Voodoo Jürgens hört den Menschen im Kaffeehaus zu und schöpft daraus die Geschichten seiner Songs.
«Da Voodoo Jürgens woa heit no ned do», sagt der Kellner des Wiener Café Weidinger, kurz bevor die Tür aufschwingt. «Aber da is er ja!» Das Hemd des Sängers ist nicht ganz so grell gemustert wie sonst. Eine ockergelbe Cordjacke und glockenförmig über den Schuhen pendelnde Jeans passen zu einer Frisur, die in den siebziger Jahren auf dem ersten Gipfel ihrer Popularität war. Irgendetwas zwischen kunstvoll verwuschelt und vom Kopfkissen verdrückt. «Is gestern wieda spät wurn», erklärt Voodoo Jürgens die Lage.
Es klingt nicht rockstarmässig. Auf der Bank in der hintersten Ecke des Cafés wirkt er so, als wäre ihm das alles unangenehm. Dass er jetzt DER Voodoo Jürgens ist. Ein Sänger mit hohem Bekanntheitsgrad zwischen den Beisln in Wien-Fünfhaus und den grossen Hallen in Berlin. International erfolgreich, weil die Band von Voodoo Jürgens den Beat des Herzens beherrscht und obwohl er selbst im Wiener Dialekt über das traurigschöne Leben singt. «Der Dialekt is Proletariat, und des is, wo i herkumm.»
Es gab etliche Jahre des Misserfolgs, in denen die Mutter nur «Heast Bua!» seufzte und der Sohn sie damit zu trösten versuchte, dass er doch bald oder spätestens in ein paar Monaten wieder ein Konzert habe. Die Schule abgebrochen, die Lehre in der Hofzuckerbäckerei Demel abgebrochen. Als Friedhofsgärtner gescheitert und als Verkäufer im Sexshop. Ein «potschertes Leben», wie der Wiener sagt. Im Wort potschert steckt eine besondere Mischung aus Ungeschicklichkeit und solidem Pech.
Was er singt, ist wahr
Wie so etwas aussieht, kann man jetzt in einem grossartig menschenfreundlichen Film sehen. Er heisst «Rickerl – Musik is höchstens a Hobby» und erzählt aus dem Leben eines gewissen Erich «Rickerl» Bohacek, einem erfolglosen Sänger. Voodoo Jürgens spielt den Sänger mit der Grandezza eines Losers, der ein Feuer in sich lodern spürt. Er ist ein Selbstbeschwichtigungskünstler, der die anderen durch Lethargie in seinen Bann zieht.
Wie im früheren Leben von Voodoo Jürgens gibt es Pech und Pannen. Den Job als Friedhofsgärtner verliert Rickerl, als bei Dienstschluss ein Totenschädel aus seinem Rucksack kullert. «Wir sind hier ein seriöser Friedhof mit lauter zufriedenen Kunden, und solange die Leute in Wien sterben, wird das auch so bleiben», sagt der Friedhofsverwalter. Der Film «Rickerl» ist aus solchen Miniaturen gemacht. Sie passen zu den Liedern von Voodoo Jürgens, die er als Herr Bohacek im Film singt. «Ich wollte diese Nummern dem Rickerl schenken», sagt der Sänger. Von Kunstfigur zu Kunstfigur? «Naa, ned wirklich.»
Voodoo Jürgens ist die echteste Kunstfigur, die man sich vorstellen kann. Fast alles, was der Vierzigjährige singt, ist wahr. Da ist die niederösterreichische Heimat-Kleinstadt Tulln, die in der gleichnamigen Hymne verewigt ist. Der Geruch einer Tierkadaververwertung und einer Zuckerfabrik liegt über diesem Ort idyllischen Grauens. Im Stadtpark gibt es den «Stodtparkfredl», der den Kindern fünfhundert Schilling anbietet, wenn er sich vor ihnen entblössen darf. Es gibt das «Glosscheamviadl» (das Glasscherbenviertel) und «a Madl», das in Tulln Dauercamperin ist.
Nicht ganz so innig ist das Verhältnis zum eigenen Vater. Als Voodoo Jürgens sieben Jahre alt ist, wandert dieser Vater ins Gefängnis. «In da Zeidung is gstondn, woa gross inseriert / Für de ondan Kinda woas a gfundanes Fressn» (ein gefundenes Fressen für die anderen Kinder), heisst es in «Tulln». Der halb autobiografische Film «Rickerl», der unter der Regie von Adrian Goiginger gedreht wurde, ist übrigens auch eine anrührende Vater-Sohn-Geschichte. Mit dem Titel Bester Filmschauspieler 2024 wurde Voodoo Jürgens für seine Rickerl-Rolle gerade beim Österreichischen Filmpreis ausgezeichnet.
Die auf den Alben «Ansa Woar» (Eins-A-Ware), «’S klane Glücksspiel» und «Wie die Nocht noch jung wor» erschienenen Lieder des Voodoo Jürgens sind über jeden Folkloreverdacht erhaben. Ihre Sprache beschreibt das Leben im existenziellen Zustand zwischen Zärtlichkeit und Grausamkeit. Im Dialekt schwingen die Wechselwirkungen von beidem mit.
«Ich kann ganz andere G’schichten erzählen, wenn ich im Dialekt schreibe. Es wird feiner, offener, verletzlicher. Die Gefühle sind im Dialekt. Auf Englisch gibt’s keine Worte dafür», sagt Voodoo Jürgens und fährt sich durch die Locken. Eine Verlegenheitsgeste, bei der man merkt, wie sehr er auch jetzt nach den richtigen Worten sucht. «Ich erzähle Geschichten, die ich zu Hause gehört habe in dieser grausamen Sprache. Ich habe das aufgesaugt. Ich habe eine Leidenschaft fürs Frühere, vom Outfit her, und deshalb glauben die Leute, dass das uralte Geschichten sind, aber alles basiert hauptsächlich auf meinen Erfahrungen.»
Im heruntergekommenen Café
Wenn einer den Namen des Schlagerstars Udo Jürgens verballhornt, dann ist das ein ermutigendes Zeichen von Humor, und auch das Werk des Wiener Guerilla-Jürgens ist von Witz durchzogen. Die Wiener Milieus der Beislsitzer, die sich ein «Saftl» (alkoholhaltiges Getränk) nach dem anderen bestellen, sind hier beschrieben. Es kommen Modernisierungsverlierer vor, die wortreich ihren Zustand beklagen, liebesschwache Menschenfeinde und ihr Gegenteil: Menschen, deren Sehnsucht wenigstens vorübergehend Zuflucht bei anderen findet.
«Erfolg find i ned spannend», sagt Voodoo Jürgens. «Ich sympathisiere eher mit Dingen, die ned funktionieren. Ich hätte auf ewig ein Rickerl bleiben können. Der Erfolg is relativ spät daherkumman. Lang is es über den Wiener Underground nicht hinausgekommen.»
Das «Weidinger», wo der Sänger von den Verlustrechnungen des Lebens erzählt, ist ein kongenialer Ort. In diesem melancholisch patinierten und angenehm heruntergekommenen Café rühren die Eigenbrötler in ihrer Melange, während man sich in einer Ecke über Putin streitet. Echte Künstler und solche, die im Kaffeehaus in aller Ruhe auf ihren Durchbruch warten, sind hier zu sehen.
Es ist eines dieser Hör- und Schaubilder, wie man sie aus den Liedern und Filmen von Voodoo Jürgens kennt. Wörter wie «Handtaschlziaga», «Burnheidlvabiaga» oder «Ohrwaschlkräuler» kommen hier vor. Der «Ohrwaschlkräuler» ist ein Ohrwurm, und solche hat Voodoo Jürgens schon einige geschrieben. Der erste und somit Grundstein seines späteren Erfolgs: «Heite grob ma Tote aus». Das Lied erzählt von einer verkehrten Welt, wie sie auch der österreichische Dialekt manchmal ist.
Seine Grossmutter, erzählt der Sänger, während er dem Kellner zum Zahlen winkt, habe für den Vorgang des Essens ein spezielles Wort gehabt: Schnackseln. Sie habe es nicht anders gekannt, und man wollte sie nicht belehren. Das Wort Schnackseln verwendet der Wiener heute für etwas, das anderswo Geschlechtsverkehr heisst. «Wir ham immer sehr glocht über die Oma», ruft Voodoo Jürgens zum Abschied.
Am 13. August ist Voodoo Jürgens bei den Musikfestwochen Winterthur zu hören.