In Wien gab es lange noch Existenzen, die aus der Zeit gefallen waren, wie der 1900 geborene Baron T., erinnert sich der schwedische Schriftsteller Richard Swartz. Was hätte der Kavallerieleutnant wohl von der Gegenwart gehalten?
Baron T., geboren anno 1900, hatte nie Gelegenheit, den Feind auf dem Schlachtfeld zu stellen. Als er als junger Kavallerieleutnant die Offiziersschule in St. Pölten verliess, war der Erste Weltkrieg gerade vorbei. Jämmerlich. So etwas kann bei wirklich jedem für den Rest seines Lebens Spuren hinterlassen.
Vor etwa einem halben Jahrhundert war er viele Jahre lang mein Vermieter in Wien, auf sentimentale Weise begeistert davon, einen schwedischen Gast in seinem Haus zu haben. Denn in Schweden hatte er nach dem Krieg einige stürmische Jugendjahre verbracht, ehe er wieder heimkehrte. Jetzt war er alt, und da ich jung war, schien mir, er hänge seltsam irritierenden und dennoch faszinierenden Ideen an. Mit elegant gewichstem Schnurrbart tat er sie in näselndem Wienerisch kund, auf pauschale und zerstreut nonchalante Weise, zugleich aber mit aristokratischer Arroganz, die keinen Widerspruch duldete.
Politiker? Eine Art rhetorischer Stachanow, langen Monologen verfallen, die in keinerlei Weise zu einem Gespräch einluden, fugenähnliche Variationen, die dem endlosen Alleingang der Stimme Thomas Bernhards glichen, ohne den geringsten Platz für eine Frage oder einen Einwand. Menschen, die zu existieren aufhören, sobald sie den Mund zumachen. Meistens ohne Macht. Auf sie sollte man nicht hören.
Der Baron predigte. Ich hörte zu.
Der Kommunismus? Ein gigantischer historischer Irrtum. Unnötig, zumindest überflüssig. Das war in den siebziger Jahren, aber der Baron beschied dem Kommunismus ein baldiges Ende. Die Russen seien tiefe Christen, eigentlich fromme Menschen, die letzte weisse Rasse zwischen uns und den Chinesen, deren schiere Menge am Ende den Ausschlag geben werde. Amerika? Zu jung und egoistisch, dessen Tage gezählt. Gleichzeitig unsere einzige Hoffnung. Europa? Heute bedeutungslos, eine Art glücklicher Wildspross der Menschheit. Während die alten Chinesen Kultur besassen, klopften wir noch auf Steine. Von uns im Westen gebe es jeden Tag weniger als von den anderen, und jahrhundertelang hätten wir sie alle als Barbaren erniedrigt, ein kolossaler Fehler, der zu nichts als Revanche und Rachedurst führe.
Warten Sie nur ab!
Ordnung im Weltbild
Jetzt könne man nichts weiter tun, als mit dem Fuss zu scharren wie ein Schweizer Hotelier, sich lächelnd einzuschmeicheln und die Hand aufzuhalten.
Der Baron strich sich über den Schnurrbart, ein paar hundert Jahre in die eine oder andere Richtung spielten keine Rolle. In seinem Weltbild herrschte Ordnung. Jetzt hätten wir das Glück – oder Unglück –, an der Reihe zu sein, und darüber müsse sich niemand wundern.
Doch ich wusste, dass sein imaginiertes Publikum ein zentraleuropäisches war, dass er seine Reden genauso gut in seinem Stammcafé hätte schwingen können wie vor mir: Dort gab es bestimmt noch mehr seines Schlags, Originale oder Sonderlinge, die zwischen tiefer Weisheit und allerlei Abstrusem pendelten. Wo war sein Kaffeehaus? Das wusste ich nicht. Nur dass es ebenso gut in Prag, Budapest oder Triest hätte sein können und dort jenseits von Zeit und Raum auch immer schon existierte. Das Reich, in das er geboren worden war, gab es nicht mehr, und es zu verteidigen, als es unterging, hatte er um Haaresbreite verpasst; so klein ist der Schritt zwischen Lächerlichkeit und Tragik.
Klima und Umweltzerstörung waren in den 1970ern kein Problem, die Bevölkerungsfrage schon eher, grosse Völkerwanderungen bildeten die Wellenbewegungen der Geschichte, beinahe ein ständiges Plätschern, und irgendwo auf den Ländereien seines Schlosses hatte er ein Grab entdeckt. Darin lag einer von Attilas Hunnen. Der Baron behauptete, er habe dort auch die Überreste eines Urhundes gefunden. Ich glaubte ihm nicht wirklich.
Aber Wald und Boden müssen ihn die Obsorge eines Landwirts gelehrt haben, der sich um alles kümmert, was wächst und gedeiht, und als der alte österreichische Präsident seine Stimme erhob und öffentlich dafür plädierte, ein für alle Mal das grösste und (leider) ewige Problem der Korruption anzupacken, also «diesen Sumpf trockenzulegen», reichte es ihm.
Kann es tatsächlich so gewesen sein? Aber damals war so etwas möglich, und der Baron erreichte den Präsidenten am Telefon und erteilte ihm eine Lektion über die Nützlichkeit des Sumpfes, eine natürliche Drainage-Vorrichtung, ohne die es keine Landwirtschaft gebe und die menschliche Rasse unmittelbar dem Untergang geweiht sei, und Präsident Kirchschläger erwies sich als wohlmeinender Mann: Er hörte zu und änderte seine Meinung. Kirchschläger bittet die Bevölkerung um Vergebung, und Greta Thunberg war noch nicht einmal auf der Welt.
Nur die Korruption ist unausrottbar geblieben. Aber das liegt, streng genommen, nicht am Baron.
Ein Sumpf ist ein Sumpf ist ein Sumpf
Tierhaltung hingegen war nicht seine Stärke: Ein Tier gehöre in den Wald oder auf den Teller. Aber nun stand die Apokalypse unmittelbar bevor, beim Schlosswirten sassen die arbeitslosen Bauern und assen Riesengarnelen in Currysauce. Die Welt war aus den Fugen. Das entsetzte ihn. Zu Hause tirilierte verschlafen ein einsamer Wellensittich in einem Käfig. Er war gelb.
Oder waren es zwei?
Jetzt ist der Baron seit langem tot. Doch die Vergangenheit ist gegenwärtig, und ein Sumpf ist ein Sumpf ist ein Sumpf. Auch meine Eltern sind tot, zugleich aber lebendiger als so manche, die tagtäglich in meiner Nähe sind. Und Auschwitz hat es gegeben: Selbst wenn auch wir, die von diesem Lager gehört haben, immer weniger werden.
Eine junge Freundin erzählt, dass ihre Kinder, drei und fünf Jahre alt, auf ihren Mobiltelefonen keine alten Filme mehr mit Pippi Langstrumpf oder den Kindern aus Bullerbü ansehen – sie seien zu langsam. Zu zäh. Nichts passiert, die Kinder schlafen ein oder widmen sich rasch anderen Dingen. Nichts darf mehr Zeit beanspruchen. Im Kinderprogramm von heute passiert die ganze Zeit irgendwas, krach bumm, jemand oder etwas fliegt links hinaus, jemand oder etwas rechts herein. Das hält die Kinder wach: Für mehr als den augenblicklichen Eindruck gibt es kein sogenanntes Konzentrationsvermögen. Der moderne Mensch verliert den Faden, während er sich die Schuhe zuschnürt.
Was Baron T. davon gehalten hätte, weiss ich, habe es aber schon vergessen.
Der schwedische Schriftsteller Richard Swartz lebt in Stockholm, Wien und Sovinjak (Istrien). – Aus dem Schwedischen von Andrea Fredriksson-Zederbauer.