Das Verborgene machte den Darsteller zum Faszinosum. Umso gebannter liest man den nun veröffentlichten Briefwechsel mit dem ehemaligen Cannes-Chef Gilles Jakob.
Michel Piccoli war ein Künstler mit einem Talent zur Metamorphose. Mit jedem Auftritt schien er seinen Zugang zu seinen Figuren neu zu erfinden: Keine Rolle, sei’s im Theater, sei’s im Kino, vermochte Rückschlüsse auf den weiteren Verlauf seiner Karriere zu ermöglichen.
Selbst das Bild, das sich die Öffentlichkeit von ihm machte, war erstaunlich unscharf. Auf den Titelseiten der Hochglanzzeitschriften war er kaum je zu sehen, obschon sein Name dem grossen Publikum während Jahrzehnten geläufig war.
Vermutlich hätte sein abgründiges und zugleich federleichtes Acting ohnehin jeden Starruhm verunmöglicht, zumal er über sich selbst jeweils nur widerwillig Auskunft gab. Zum Teil lag seine Unergründlichkeit allerdings auch an seinen Karriereentscheiden.
Im Pariser Nachkriegstheater nahm er Engagements an, die ihm ungeachtet einer allenfalls symbolischen Entschädigung als Qualitätsversprechen erschienen. Später führte sein Flair für die grossen Theatermomente zur Zusammenarbeit mit Regisseuren wie Claude Régy und Luc Bondy, in dessen Inszenierung von Ibsens «John Gabriel Borkman» er das Wunder vollbrachte, zwölf endlose Minuten lang stumm und bewegungslos auf der Bühne zu verharren, ohne je an Ausdruck und Kraft zu verlieren.
Auf der Leinwand avancierte er dank seiner atemberaubenden One-Man-Show in Marco Ferreris surreal grundierter Mordchronik «Dillinger è morto» und Godards «Le mépris» (als gescheiterter Ehemann und Drehbuchautor) zur internationalen Grösse.
Unverhoffte Einblicke
Natürlich: Es ist das Verborgene, das Unausgesprochene, das einen Darsteller zum Faszinosum macht. Umso interessanter erscheint nun seine Korrespondenz mit dem Freund – und ehemaligen Präsidenten des Filmfestivals von Cannes – Gilles Jakob, die heute unverhofft Einblicke ins artistische Atelier des Schauspielers erlaubt.
Der vom Alexander-Verlag sorgfältig übersetzte und edierte Briefwechsel führt von Piccolis Kindheit über die Lehrjahre Mitte der vierziger Jahre bis zu dessen (weitgehend unbekannter) Karriere als Regisseur. Nach und nach zeichnet sich hierbei die Silhouette eines Ausnahmekünstlers, dem alles Theatralische zutiefst fremd war und dessen stets intuitive und bisweilen nachgerade schwerelos anmutenden Auftritte jeweils auf einer soliden Technik gründeten.
Es ist der zwischen den beiden Männern herrschenden Vertrautheit zu verdanken, dass sich Piccoli auch zu persönlichen Bekenntnissen verleiten lässt. Seine Formulierungen sind so frei, dass er sich erlaubt, seine Gedanken im Schreibfluss auszuformen und Aussagen und Urteile im Nachhinein zu korrigieren.
Es kommen auch persönliche Erinnerungen zu Wort, etwa an die Kindheit im emotional unterkühlten Elternhaus sowie an den frühen, alles überschattenden Tod des älteren Bruders, der im Leben des Zweitgeborenen verständlicherweise tiefe Spuren hinterlassen hat: Piccoli spricht von sich als dem «Ersatzkind», das sich bis tief ins Erwachsenenalter als «Stellvertreter» sah.
Bei aller Familiarität, die sich der Briefwechsel erlaubt, kommt Piccoli jedoch stets auch auf die Fundamente seines Schauspiels zu sprechen, den «Nuancenreichtum», den die Modulation der Stimme erlaubt, die «rohe Energie», die er beim Erarbeiten seiner Rollen mobilisiert, seine «Obsession», den Manierismus und generell alles Prätentiöse zu fliehen: «Oft steht man auf der Bühne, ohne etwas zu sagen, die Worte der anderen umgeben einen. Zuhören ist das Schwierigste für einen Schauspieler, dem Partner wirklich zuhören zu können, ohne ihn dabei zu verschlingen.»
Parallelen zu Luis Buñuel
Ist es diese Fähigkeit zur Selbstentäusserung, die es Michel Piccoli ermöglichte, eine der aussergewöhnlichsten Darstellerkarrieren Frankreichs zu absolvieren? «Ich mag Schauspieler, die ihrem Geheimnis treu bleiben», ist ein weiterer Satz, der erklären mag, weshalb Piccoli trotz seiner sechs Jahrzehnte umspannenden künstlerischen Laufbahn nie in einer Wiederholungsschlaufe gefangen blieb.
Das Fragmentarische dieses schmalen Buchs ist zweifellos seinem Aufbau in Form eines Dialogs geschuldet. In dieser Hinsicht sind die Parallelen zu Luis Buñuels von Jean-Claude Carrière aufgezeichneten Memoiren «Mein letzter Seufzer» nicht zu übersehen. Über Piccoli, der sich mit fünf Rollen in Buñuels Filmografie als dessen Starschauspieler profilierte, sagte der Spanier, er möge dessen «leise Verrücktheit und den Respekt, den er mir nie entgegenbringt».
Diese Qualitäten sind auch in dieser Publikation nachgerade greifbar. Es mache ihm Spass, mit seinen Widersprüchen zu jonglieren, gibt Piccoli Jakob zu Protokoll – und: «Vielleicht bin ich eine Art satanischer Clown.»
Michel Piccoli mit Gilles Jacob: Ich habe in meinen Träumen gelebt. Erinnerungen. Aus dem Französischen von Ralph Eue. Alexander-Verlag, Berlin 2024. 192 S., Fr. 36.90.