Die Schweizer Philosophin denkt über die Lebensmitte nach. Doch ihrem Buch fehlen Tiefe und Entschiedenheit.
Verirrt in einem dunklen Wald, findet er nicht mehr aus dem Dickicht heraus: So beschreibt Dante Alighieri in der «Göttlichen Komödie» sein Hadern in der Mitte des Lebens. Über 600 Jahre später kennt man dafür den Begriff midlife crisis. Mit einem Gang durchs Gestrüpp vergleicht auch Barbara Bleisch diesen Zustand. Bei ihr führt er auf eine Hochebene zu einem schönen Bergsee. Die bekannte Schweizer Philosophin versteht die Mitte des Lebens als ein unebenes Terrain, das sie in ihrem soeben erschienenen Buch vermessen will. Das Durchschreiten von steilen oder sumpfigen Stellen wird dabei mit – erwartbarem – Weitblick belohnt.
Als Moderatorin der SRF-Sendung «Sternstunde Philosophie» vermag Bleisch Lebensfragen klug und engagiert mit philosophischer Reflexion zu verbinden. Auch in «Mitte des Lebens» bezieht sie sich auf das alltägliche Erleben und eigene Erfahrung, nämlich jene, in den mittleren Jahren angekommen zu sein und älter zu werden. «Werde ich achtzig Jahre alt, bleiben mir heute noch 1560 Wochen. Das scheint mir erschreckend wenig», heisst es zu Beginn des Buches. Was aber folgt daraus, wenn man die eigene Endlichkeit plötzlich vor Augen hat?
Bleisch weist zu Recht darauf hin, dass die Lebensmitte in der Philosophie bisher kaum thematisiert wurde, im Gegensatz zur Kindheit und zum Alter. Wie auf einem Parcours schreitet die Autorin nun verschiedene Aspekte dieser Lebensphase ab, von Bedauern und Enttäuschung über Stagnation und Verantwortung bis zur Frage nach dem Sinn des Lebens. Kleine persönliche Anekdoten verbindet sie mit Gedanken aus Philosophie, Literatur und Psychologie. Dabei betont Bleisch, sie habe kein Ratgeberbuch schreiben wollen. Stattdessen denkt sie nach – und zitiert. «Mitte des Lebens» gleicht zuweilen einer Zitatsammlung.
Natürlich gehört es zum Wesen eines Streifzugs, dass vieles nur angetippt wird. Doch Bleisch verzichtet leider gänzlich auf Tiefenbohrungen. Vielmehr ist sie auf Ausgleich bedacht: Stets verweist sie auf die Höhen und die Tiefen, den Schmerz und die Fülle. Das klingt zum Beispiel so: «Bedauern ist die bittere Pille, die wir schlucken müssen zugunsten eines lustvollen Lebens, das nicht nur etwas Bestimmtes, sondern viel Verschiedenes will.»
Zentral in Bleischs Argumentation ist der Begriff der Ambivalenz. «Sich festzulegen und entschlossen weiterzugehen, schliesst dabei Ambivalenzen nicht aus», heisst es. Auch wenn dies zutrifft, bleibt die Bedeutung dieser Aussage doch wie vieles in diesem wohltemperierten Buch schwer fassbar.
Bleisch zeichnet ein versöhnliches Panorama grundsätzlich gelungener Lebensführung. Scheitern ist darin keine Option. Zum Thema Leid schreibt sie: «Man kann an Schwerem auch zerbrechen», jedoch ohne dies weiter zu ergründen. So fehlt es diesem Buch an Dringlichkeit und Entschiedenheit. Gleichzeitig offenbart sich in Bleischs Unterfangen die grundsätzliche Schwierigkeit, in philosophischen, also allgemeinen Begriffen über subjektive Erfahrung zu sprechen.
Denn auch wenn wir alle die gleichen Lebensphasen durchleben, unterscheidet sich die gelebte Erfahrung von Mensch zu Mensch. Es ist deshalb kein Zufall, dass die Autorin auch die Literatur zu Rate zieht, von Friedrich Hölderlin über Bertolt Brecht bis zu Sylvia Plath. Literatur sieht vom Allgemeinen ab und spricht konkret über das Leben.
Dass die eigene Identität stets auch narrativ konstruiert wird, sieht auch Bleisch. Doch sie verweist darauf, dass der Zusammenhang zwischen Lebensgeschichte und Selbst komplex ist, und bevorzugt den Begriff des «freigelegten Lebens». Die Mitte des Lebens, wenn wir gleichzeitig vorwärts und rückwärts blicken können, sei der beste Moment, um sich zu fragen, wer wir sein wollten.
Dass philosophisches Nachdenken zu einem guten Leben beiträgt: Diese Hoffnung steckt auch hinter dem Philosophie-Boom, der sich in Festivals, Podcasts und einer grossen Menge philosophischer Sachbücher zeigt. Bei Bleisch nimmt dieses Nachdenken die Form eines beschaulichen Spazierganges an, der von Dantes dunklem Dickicht weit entfernt ist.
Barbara Bleisch: Mitte des Lebens. Eine Philosophie der besten Jahre. Hanser 2024. 272 S., um Fr. 35.–, E-Book 23.–.