Die Migros hat am Bosporus einen Zwilling: die Migros Ticaret. Die Unternehmen haben denselben Gründer, dasselbe Logo – nur bei der Technologie liegen sie weit auseinander. Ein Gespräch mit dem CEO Özgür Tort.
Herr Tort, Sie sind der Chef der türkischen Migros und derzeit in der Schweiz zu Besuch. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie hier eine Migros-Filiale betreten?
Es ist immer wieder faszinierend, in eine Migros in der Schweiz zu gehen, da unsere Unternehmen ja gemeinsame Wurzeln haben. Wir verwenden noch heute Begriffe, die von der Schweizer Migros eingeführt wurden, wie «Division» oder «Action». Und wissen Sie was? Der erste Produktcode in unserer Datenbank ist der für Reis: 01010001. Ich habe nachgeschaut: Die Schweizer Migros verwendet denselben Code.
Vergleichen Sie Ihre Migros mit unserer Migros?
Ja, das tue ich. Jedes Mal, wenn ich hier bin, schaue ich mir die neuen Produkte an und achte darauf, wie die Lebensmittel präsentiert werden. Man stellt zum Beispiel nie zwei grüne Produkte nebeneinander, weil das farblich nicht harmoniert. Wenn Sie also eine grüne Paprika haben, stellen Sie eine rote Tomate daneben, dann kommt eine gelbe Zitrone.
Die Migros Schweiz ist bekannt für ihre Eigenmarken wie den Eistee oder die Tourist-Schokolade. Gibt es in der Türkei ähnliche Erfolgsprodukte?
Ja, wir bieten einige Eigenmarkenprodukte an. Besonders beliebt ist unser Reis, aber wir produzieren auch Milch, Joghurt und Zucker.
In der Schweiz wächst man als Migros- oder als Coop-Kind auf. Gibt es in der Türkei ähnliche Loyalitäten?
Das beginnt bei uns schon vor der Geburt. Wir erkennen anhand des Kaufverhaltens, dass jemand ein Kind erwartet. Diese Paare gehen wir gezielt an und laden sie in unseren Babyklub ein.
Was bietet Ihr Babyklub?
Die Mitglieder erhalten Spezialrabatte auf Babyprodukte, und wir machen ihnen auch Vorschläge, was sie kaufen könnten. Es ist doch so: Wenn Sie gerade ein Kind bekommen haben, haben Sie keine Zeit für den Einkauf und solche Dinge. Da helfen wir mit unseren Produktvorschlägen.
Die andere Migros
Die Migros Ticaret geht auf eine Initiative der Stadt Istanbul zurück. In der Nachkriegszeit hatte sie Mühe, die rasch wachsende Bevölkerung zu ernähren. 1953 bat sie den Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler um Unterstützung. Daraus entstand die Migros Türk, ein Tochterunternehmen der Schweizer Migros. 1975 folgte die Trennung der beiden Unternehmen. Die in Migros Ticaret umbenannte Supermarktkette betreibt heute 3363 Läden – darunter zwei Supermarktschiffe auf dem Mittelmeer. Im Gegensatz zur Schweiz hat sie auch Alkohol und Tabak im Angebot. Das Interview fand im Rahmen der internationalen Handelstagung am Gottlieb-Duttweiler-Institut statt.
Wie gehen Sie das an?
Wir investieren viel Geld und Zeit in die Datenanalyse. 19 Millionen Menschen nutzen unser Treueprogramm «Money». Daraus lernen wir viel über ihre Vorlieben. Zum Beispiel schlagen wir den Kunden in unserer App basierend auf ihren früheren Einkäufen Produkte vor. Den vorgeschlagenen Warenkorb müssen sie nur noch bestätigen, und er wird nach Hause geliefert.
Was machen Sie, um die jüngere Zielgruppe an sich zu binden?
Unsere Fintech-Tochter «MoneyPay» greift auf die Daten des Treueprogramms zurück und eröffnet uns neue Möglichkeiten, Finanzlösungen anzubieten. Wir haben zum Beispiel eine digitale Brieftasche für Teenager entwickelt. Eltern laden Geld darauf, und die Kinder können damit einkaufen gehen. Später werden sie zu Erwachsenen und, so hoffen wir, zu treuen Kunden.
Wie nutzen Sie die Daten sonst noch?
Wir schicken sie auch an unser Medienunternehmen Mimeda, das damit personalisierte Angebote ausspielt. Vor kurzem haben wir mit dem türkischen Gesundheitsministerium ein neues Programm lanciert: Darin kategorisieren wir die Einkäufe einer Person nach Vitaminen, Proteinen, Kohlenhydraten und so weiter. Wenn wir sehen: Okay, da kauft einer zu viele Kohlenhydrate, schlagen wir ihm vor, mehr Gemüse oder ein paar Früchte zu kaufen. Und wenn wir merken, dass jemand nicht genug Eiweiss zu sich nimmt, bieten wir der Person einen Rabatt auf eiweisshaltige Produkte an.
Sie scheinen die Daten intensiver auszuwerten und zu nutzen als die Schweizer Detailhändler. Gibt es keine Bedenken hinsichtlich des Datenschutzes?
Solche Diskussionen gibt es auch in der Türkei. Wir unternehmen nichts ohne die rechtliche Erlaubnis unserer Kunden.
Sie sagen immer wieder öffentlich, dass Sie ein Ökosystem rund um den Lebensmitteleinkauf aufbauen wollen. Was meinen Sie damit?
Unser Ziel ist es, den Kunden innerhalb von fünfzehn Minuten zu erreichen. Entweder erreicht er uns, indem er in eine unserer mehr als 3500 Filialen geht. Oder wir erreichen ihn. Wir bieten eine App an, über die alles bestellt werden kann, was in unseren Läden erhältlich ist. In einigen Städten haben wir zudem ein Angebot namens «Instant». Dort bieten wir 2000 Produkte an, die wir innerhalb von fünfzehn Minuten an jede Haustüre liefern.
Die Migros in der Schweiz verdient kein Geld mit Online. Verdienen Sie Geld mit «Instant»?
Die Sofortlieferung an sich ist natürlich kostspielig. Das Modell wird profitabel, wenn wir das gesamte Kaufverhalten eines Kunden betrachten.
Was meinen Sie damit?
Die Denkweise des klassischen Einzelhandels besagt: Jedes Format muss für sich genommen profitabel sein. Dann ist der Laden gut, weil er Gewinne schreibt, und die Sofortlieferungen sind schlecht, weil sie keine Gewinne schreiben. Ich plädiere aber dafür, das alles für einen Moment zu vergessen und stattdessen die Rentabilität einer einzigen Person zu betrachten. Diese kauft ein paar Mal in der Woche in einem Supermarkt ein, sie bestellt sich aber auch Dinge nach Hause, vielleicht sogar via Sofortlieferung.
Und diese verschiedenen Transaktionen müssen zusammengenommen rentieren.
Genau. Vergessen Sie die Kosten für eine Geschäftseinheit, betrachten Sie das Ganze. Viele Tech-Unternehmen denken schon so. Im Detailhandel ist das noch nicht angekommen, aber wir entwickeln uns dahin.
Klingt, als arbeite die Migros Türkei mehr wie ein Technologieunternehmen.
Ein traditioneller Lebensmittelhändler zeichnet sich durch seine Wurzeln aus, das kennen Sie von der Schweizer Migros. Diese Herkunft muss man bewahren und schützen. Aber das alleine reicht nicht. Ein Unternehmen braucht heute andere, neue Talente, die den Bedürfnissen der Zukunft entsprechen. Schauen Sie sich die jungen Leute an: Sie haben keine Lust mehr, bei einem Detailhändler die Regale aufzufüllen. Dafür können sie sehr analytisch denken, sie interessieren sich für das Programmieren.
Bilden Sie Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in diesen Bereichen weiter?
Wir bieten ein Fernstudium an einer Universität an, mit der wir zusammenarbeiten. Das Fach können sich die Angestellten aussuchen, zum Beispiel Sozialwissenschaften oder Lebensmitteltechnologie. Nach einem erfolgreichen Abschluss werden sie von uns befördert. So sieht eine typische Migros-Karriere in der Türkei aus.
Sie haben sich kürzlich zum ersten Mal mit Mario Irminger, dem Chef des Migros-Genossenschafts-Bundes, getroffen. Worum ging es?
Wir haben darüber gesprochen, wie wir zusammenarbeiten könnten. Wir könnten den Schweizern zum Beispiel beim Einkauf in einigen Kategorien helfen. Die Türkei hat eine sehr starke Landwirtschaft.
Die Schweizer Migros steht unter Druck, unter anderem wegen der Billigkonkurrenten Aldi und Lidl. Wie gehen Sie mit Discountern um?
Discounter haben eine kleine Produktpalette, was die Logistik effizienter macht. Unser breites Sortiment hingegen erhöht die Lieferkosten. Es dauerte eine Weile, bis wir lernten, wie wir in einem solchen Markt erfolgreich bestehen können.
Und was haben Sie gelernt?
Wir setzen auf vertikale Integration. Wir kaufen direkt von kleinen Produzenten und Genossenschaften und verfügen im ganzen Land über Verpackungsanlagen für Obst und Gemüse. Wir betreiben ausserdem die grösste Fleischverarbeitungsanlage der Türkei. Diese Zentren sind unser Herzstück. Mit ihnen optimieren wir die Lieferkette von den Feldern bis auf die Teller unserer Kunden.
Die Migros Türkei ist seit dem Jahr 1991 börsenkotiert, während die Migros Schweiz als Genossenschaft organisiert ist. Welches Modell ist besser?
Beide Modelle haben ihre Vor- und Nachteile. Genossenschaften sind entscheidend, um die gesamte Lieferkette zu unterstützen. Sie nehmen in der Lebensmittelversorgung eine wichtige Rolle ein.
Auch Ihre Migros steht vor Herausforderungen: Die Inflationsrate in der Türkei lag zuletzt bei 52 Prozent.
Tatsächlich ist die Inflation ein globales Phänomen. Sie betrifft uns alle, von unseren Lieferanten bis zu unseren Kunden. Es ist ein komplexes Problem, für das es keine einfache Lösung gibt.
Die Inflation in der Türkei ist aber seit Jahren im hohen zweistelligen Bereich. Wie passt man als Detailhändler die Preise an, wenn das Geld so stark an Wert verliert?
Früher haben wir unsere Preislisten einmal jährlich aktualisiert, heute müssen wir dies alle drei Monate tun. Das bedeutet, dass wir nun viermal im Jahr mit 2000 Lieferanten verhandeln müssen. Das ist zeitraubend und mühsam. Als Einzelhändler müssen wir sowohl die Bedürfnisse unserer Kunden als auch die der Lieferanten berücksichtigen und sicherstellen, dass beide Seiten überleben können.
Wie finden Sie hier ein Gleichgewicht?
Wir suchen nach Möglichkeiten, die Kaufkraft unserer Kunden zu erhöhen. Jährlich bieten wir mehr als 8000 Sonderaktionen an. Wir achten darauf, dass aus jeder Kategorie ein Produkt rabattiert ist. Im Durchschnitt gibt es in einem Haushalt etwa 600 Kategorien von Produkten des täglichen Bedarfs – wie etwa Shampoo, Reis oder Zucker. Wenn wir nun sieben Shampoo-Marken im Sortiment haben, ist eine davon in Aktion.
Lassen Sie uns über Ihre Herkunft sprechen. Gottlieb «Dutti» Duttweiler gründete den türkischen Ableger der Migros im Jahr 1954 auf Einladung des damaligen Bürgermeisters von Istanbul. «Dutti» bezeichnete dies damals als Entwicklungshilfe. Teilen Sie diese Einschätzung?
Ja, das kann man so sehen. Damals gab es in der Türkei keinen organisierten Detailhandel. Duttweiler brachte Verkaufswagen in die Türkei, ähnlich wie er es in der Schweiz getan hatte. Die Wagen fuhren mit den Produkten quer durch Istanbul. Später wurde daraus die erste Ladenkette des Landes.
Ist es heute besser, so viele Dienstleistungen wie möglich zu zentralisieren, oder ist Dezentralisierung der richtige Weg?
Es geht um das richtige Gleichgewicht. Vieles, was wir heute konsumieren, wird lokal produziert und lokal verkauft – vor allem frische Produkte wie Gemüse. Eine komplette Zentralisierung würde hohe Transportkosten, mehr Emissionen und grössere Arbeitskosten verursachen. Lokale Beschaffung ist daher in vielen Bereichen die bessere Lösung.
Sie sind kein Ökonom, sondern Ingenieur. Inwiefern hilft Ihnen dieser Hintergrund im Detailhandelsgeschäft?
Mein Masterstudium habe ich im Bereich datengesteuertes Marketing gemacht, und in meiner Doktorarbeit ging es darum, wie man die Landwirtschaft nachhaltig finanzieren kann. Diese Kombination aus technischem und ökonomischem Wissen hilft mir, sowohl die wirtschaftlichen als auch die sozialen Aspekte des Geschäfts zu verstehen.
Ist auch das eine Aufgabe der Migros Türkei: soziales Engagement?
Aber ja. Die Lebensmittelproduktion hat eine enorme soziale Bedeutung. Jeder kann ohne ein Smartphone leben, aber niemand überlebt ohne Essen. Deshalb ist es entscheidend, dass wir das Ökosystem der Nahrungsmittelproduktion unterstützen und, wo nötig, subventionieren. Eine zentrale Rolle spielen die Bauern in unserem Land.
Das Durchschnittsalter der Bauern in der Türkei liegt bei 52 Jahren. Wie wollen Sie die junge Generation motivieren, in die Landwirtschaft zu gehen?
Es ist eigentlich ganz einfach. Wenn man die jungen Leute fragt, was sie brauchen, um in ihren Dörfern zu bleiben, nennen sie drei Dinge: stabiles Internet, Zugang zu medizinischer Versorgung und ein soziales Umfeld, wie etwa ein Café oder ein kleines Einkaufszentrum. Es ist unsere Aufgabe, diesen Menschen solche Dinge bereitzustellen. Dann bleiben sie in der Landwirtschaft, und die Kunden erhalten Zugang zu erschwinglichen Lebensmitteln.
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