Das Drama vor drei Jahren war in den Medien omnipräsent und gilt als exemplarischer Fall eines angekündigten Ehrenmords durch einen eifersüchtigen Ehemann. Es sei alles ganz anders gewesen, sagt nun dessen Verteidiger.
20 Jahre Freiheitsstrafe und 15 Jahre Landesverweis, so lautete das Urteil des Bezirksgerichts Zürich gegen einen heute 49-jährigen Türken, der am 13. Oktober 2021 in Zürich Altstetten seine von ihm getrennt lebende 30-jährige Ehefrau mit zehn Messerstichen umgebracht hatte. Zuvor hatte er ihr mehrfach geschrieben, dass er sie töten werde.
«Ich glaube, dass ich zu Unrecht verurteilt worden bin», sagt der Beschuldigte am Dienstag im Berufungsprozess vor Obergericht. An die Tat könne er sich nicht erinnern.
Die Frau war abends um etwa 20 Uhr 30 vor ihrer Haustüre niedergemetzelt worden. Ihr Noch-Ehemann, dem eigentlich ein Kontakt- und Rayonverbot auferlegt worden war, hatte ihr – laut Anklage – dort «abgepasst». Er hatte sein Handy zu Hause gelassen, gemäss der Staatsanwältin, um seine Standortdaten zu verschleiern. Nachbarn hörten Angstschreie und wurden zum Teil Augenzeugen der Bluttat.
Drei der Messerstiche waren für sich allein tödlich: Einer ging durch die linke Herzkammer, einer durch Leber und Hohlvene und einer durch Dünndarm und Leber.
Gemäss Anklage und Urteil der Vorinstanz stach sich der Beschuldigte danach selber mit dem Messer in den Bauch. 40 Minuten später erschien er mit der Verletzung auf einem Polizeiposten und wurde ins Spital gebracht. Von der Tatwaffe fehlt bis heute jede Spur.
Bereits vier Tage vor der Bluttat war der Ehemann vor dem Fenster des Schlafzimmers der Hochparterre-Wohnung der Ehefrau erschienen und hatte ihren neuen Lebensgefährten im Bett erblickt. Er soll die Frau und ihren neuen Partner daraufhin mit dem Tod bedroht und den Mann geschlagen haben. Deswegen war er vom Bezirksgericht Zürich auch wegen Drohung verurteilt worden.
«Reflexartig» im verbotenen Rayon angehalten
Die Todesdrohungen bestreitet der Beschuldigte vor Obergericht. Er sei im Gegenteil von seiner Ehefrau massiv beschimpft worden. Er sei nur dort gewesen, um sein Velo zu holen. Vier Tage später sei er mit dem Auto an dem Haus vorbeigefahren. Da habe er seine Ehefrau zufälligerweise auf dem Trottoir gesehen und «reflexartig» angehalten, um mit ihr zu reden. Er sei ausgestiegen und zu ihr gegangen. Sie habe ihn wieder beschimpft. Er habe sich daraufhin umgedreht und habe weggehen wollen.
Er habe aber in seinem Rücken ein Geräusch gehört. Als er sich umgedreht habe, sei seine Frau auf dem Boden gelegen. Er habe die Hand ausgestreckt, um ihr aufzuhelfen. Dann habe er einen Schmerz in seinem Bauch verspürt, und ihm sei schwarz vor Augen geworden, übersetzt der Gerichtsdolmetscher. An den Rest erinnere er sich nicht mehr, behauptet der Beschuldigte. Auch daran, dass er den Tatort mit dem Auto wieder verlassen habe, erinnere er sich nicht.
Der 49-Jährige stellt sich auf den Standpunkt, seine Frau habe das Messer bei sich gehabt und zuerst ihn damit gestochen. «Als ich zu ihr ging, hatte ich kein Messer bei mir, darauf kann ich mehrfach schwören», sagt er. Im Auto wurde allerdings eine leere Messerscheide gefunden, an deren Innenseite seine DNA sichergestellt werden konnte.
Der kurdische Beschuldigte wurde 1974 in der Türkei geboren, engagierte sich politisch und flüchtete 1999 im Alter von 25 Jahren in die Schweiz, wo er als Flüchtling anerkannt wurde. Ab 2003 arbeitete er nicht mehr und lebte von der Sozialhilfe. 2011 heiratete er seine Frau, die dazu aus der Türkei in die Schweiz einreiste. Sie haben zwei gemeinsame Kinder; eine heute zwölfjährige Tochter und einen neunjährigen Sohn. Die Kinder habe er seit drei Jahren nicht mehr gesehen, sagt der 49-Jährige im Gerichtssaal.
Der Mann hat zwei Vorstrafen. Im Jahr 2019 erhielt er im Kanton Baselland eine Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 11 Monaten wegen räuberischer Erpressung, mehrfachen Betrugs und weiterer Delikte. Ein Jahr davon musste er im Gefängnis absitzen. Auch in diesem Fall sei er zu Unrecht verurteilt worden, erklärt er den Richterinnen und Richtern.
Verteidiger kritisiert Vorinstanz als voreingenommen
Sein Verteidiger plädiert im Hauptantrag auf eine Freiheitsstrafe von maximal 5 Jahren wegen Totschlags, einen Freispruch vom Vorwurf der Drohung und den Verzicht auf den Landesverweis. Das Bild, das in der Öffentlichkeit vom Familiendrama gezeichnet worden sei, stimme nicht.
Die grosse Publizität des Falls habe einen hohen Druck auf die Vorinstanz bewirkt, was zu einer «willkürlichen und ergebnisorientierten Beweiswürdigung» und einem entsprechenden Urteil geführt habe. Es sei offensichtlich, dass das Urteil schon vor der eigentlichen Gerichtsverhandlung festgestanden habe.
Es sei naheliegend, dass die Ehefrau zum Eigenschutz ein Messer mit sich geführt habe. Sie habe damit zuerst auf den Ehemann eingestochen. Die Reaktion des Beschuldigten sei eine offensichtliche Affekttat mit einer aufgrund der Umstände entschuldbaren Gemütsbewegung gewesen, erzählte der Anwalt.
Die Vorinstanz habe zudem das problematische Verhalten und den Charakter der Ehefrau ignoriert und bagatellisiert. Diese habe den Beschuldigten ständig provoziert, übel beschimpft und versucht, ihn damit zu Straftaten zu verleiten, um ihn wieder ins Gefängnis zu bringen. Der Verteidiger stellt den Beschuldigten als Opfer dar. Auch seine grosse seelische Belastung sei von der Vorinstanz schlichtweg ignoriert worden.
Auf den Landesverweis sei zu verzichten, weil der Beschuldigte ein anerkannter Flüchtling sei. Das Tötungsdelikt sei in einer hochspezifischen Täter-Opfer-Beziehung erfolgt, der Beschuldigte sei nicht gemeingefährlich, und es bestehe grundsätzlich durch ihn keine Gefahr für die Öffentlichkeit.
Die Staatsanwältin erneuert ihren Antrag auf eine lebenslängliche Freiheitsstrafe. Im Übrigen sei das vorinstanzliche Urteil zu bestätigen. Es handle sich um einen klassischen Ehrenmord. Die Tat sei geplant gewesen. Der Beschuldigte habe Rache an seiner Ehefrau geübt, um seine Ehre wieder herzustellen. Das Tatverschulden sei so schwer, dass nur eine lebenslängliche Strafe infrage komme.
Der Beschuldigte zeige auch keinerlei Reue. Er habe sich nach der Tat auch nicht gestellt. Er sei damals nur zur Polizei gegangen, weil er für seine eigene Gesundheit gefürchtet habe, bringt die Staatsanwältin vor. Dass seine Ehefrau schwer verletzt vor der Haustüre liege, habe er damals bei der Polizei mit keinem Wort erwähnt.
Die Vorinstanz hatte den Hinterbliebenen insgesamt 160 000 Franken Genugtuung zugesprochen, was vor Obergericht nicht angefochten worden ist. Das Urteil wird am Mittwoch eröffnet.