Ein Artenschutz-Experte erklärt, was vom vielbeschworenen «Insektensterben» zu halten ist.
In den vergangenen zwanzig Jahren sei es punkto Artenvielfalt aufwärtsgegangen, sagte der Biologe Marcel Züger kürzlich im NZZ-Interview. Eine Biodiversitätskrise gebe es nicht, diese werde bewusst herbeigeredet, um schärfere Schutzmassnahmen zu begründen. Die Umweltverbände WWF, Pro Natura und Birdlife Schweiz reagierten scharf und warfen Züger Unwissenschaftlichkeit vor.
Züger hat seine Studie im Auftrag des Bauernverbandes erstellt, im Hinblick auf die bevorstehende Abstimmung über die Biodiversitätsinitiative der Umweltverbände. Der Bauernverband bekämpft diese Volksinitiative, die einen stärkeren Schutz der Artenvielfalt in der Bundesverfassung verankern will. Auf Nachfrage der NZZ stützen nun aber renommierte Biodiversitätsforscher Zügers Kernaussagen.
Äsche und Nase zurück
Lukas Berger ist Geschäftsführer des Forums Biodiversität der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz. Er sagt: «Wir können stolz sein auf die positive Entwicklung in den letzten Jahren.» Wenn man Massnahmen ergreife, dann habe das eine Wirkung, etwa bei der Revitalisierung von Gewässern. Als Beispiel nennt er die Rückkehr von gefährdeten Fischarten wie der Nase oder der Äsche. Allerdings sei der Zustand der Biodiversität noch nicht befriedigend. «Wir hatten bis in die 1990er Jahre massive Verluste bei den Arten.» Der Ausgleich sei noch nicht geschafft.
Zudem gehe es vielen spezialisierten Arten schlecht, weil ihre Lebensräume schrumpften. Oft handle es sich dabei um kleine Tiere, die kaum Interesse weckten, wie etwa das Moor-Wiesenvögelchen, ein Tagfalter, der auf ungedüngte Riedflächen angewiesen sei. Oder den Grossen Eichenbock, einen Käfer, der sich in alten Eichen entwickle. Um seltenen Tieren zu helfen, reichten Schutzgebiete nicht aus. Manchmal müsse man in die Lebensräume eingreifen.
Den Bauern attestiert Berger, viel für die Biodiversität zu tun. Teilweise sei die Qualität der ökologischen Ausgleichsflächen aber noch nicht befriedigend. Wie Züger spricht auch er von einem «Bürokratiekrieg». Die Bauern müssten heute schon sehr viele Vorschriften einhalten. Man sollte mehr direkt auf den Höfen machen, gemeinsam mit den Bauern, und darauf achten, dass sie für den Aufwand entschädigt würden.
Damit die Biodiversität sich besser entwickle, sei nicht nur die Landwirtschaft gefragt, sagt Berger, es brauche auch Massnahmen in den Siedlungsräumen und beispielsweise an den Borden von Autobahnen.
Den genetischen Austausch fördern
Niklaus Zimmermann ist wissenschaftlicher Programmleiter an der Eidgenössischen Forschungsanstalt WSL und Titularprofessor an der ETH Zürich. Er sieht weiterhin grosse Herausforderungen. Bei den stark gefährdeten Arten hätten die Schutzmassnahmen erste Erfolge gezeigt, sagt er. Aber insgesamt könne man nicht von einer Trendwende sprechen. Dazu brauche es mehr Schutzflächen von guter Qualität in einem Netzwerk von überwindbaren Distanzen. Dies ermögliche den genetischen Austausch und Wanderungen von Arten.
Das geplante Programm «Ökologische Infrastruktur» der Kantone sei ein geeignetes Instrument dazu. Eine grosse Gefahr drohe der Biodiversität in naher Zukunft vom Klimawandel, sagt Zimmermann. Die Arten müssten künftig vermehrt wandern können. Dazu sei eine funktionierende ökologische Infrastruktur nötig. Zudem müssten Klima- und Biodiversitätsschutz gemeinsam angegangen werden. Man dürfe den Artenschutz nicht gegen die erneuerbare Energieproduktion ausspielen.
Bernhard Schmid wiederum sagt, es sei gar nicht so einfach, zu wissen, wie sich die Biodiversität entwickle. Schmid ist emeritierter Professor an der Universität Zürich und erforscht die Zusammenhänge zwischen der Biodiversität und den Leistungen, die Ökosysteme für den Menschen erbringen.
Das Aussterben von Arten finde oft an unbeobachteten Orten statt. Grundsätzlich habe Marcel Züger in seiner Studie alles richtig erfasst. Naturschützer zeichneten pessimistische Szenarien, weil sie dächten, dass sich so zusätzliche Schutzmassnahmen am besten begründen liessen.
Schweizer Landwirtschaft tut mehr als andere
Die Schweiz habe mit ihren Biodiversitätsförderflächen ein gutes System, findet Schmid. Betriebe, die Direktzahlungen erhalten, müssen 7 Prozent der Agrarflächen dafür ausscheiden. In der EU gebe es selbst für Biobetriebe nichts Vergleichbares. Da die Schweiz aber eine besonders hohe Biodiversität besitze, komme ihr beim Schutz eine Sonderstellung zu.
Die Landwirtschaft habe grosse Fortschritte gemacht, sagt Schmid. Er führt das Beispiel des Wachtelkönigs an. Das ist ein Vogel, der aus der Schweiz praktisch verschwunden ist. Werden die Wiesen früh gemäht, kann er nicht brüten. Heute dürfte ein Bauer aber gar nicht mehr mähen, wenn ein Wachtelkönig auftauchen würde. Solche Massnahmen seien unmittelbar wirksam.
30 Prozent der Arten gelten heute gemeinhin als ausgestorben oder stark gefährdet. Bei dieser Zahl müsse man sich jedoch bewusst sein, dass die Mehrzahl aller Tier- und Pflanzenarten grundsätzlich nur selten vorkommen, sagt Schmid. Daraus solle man nicht reflexartig schliessen, dass sie gefährdet seien.
Auch Schmid attestiert der Schweiz beim Biodiversitätsschutz Erfolge, etwa beim Schutz von Feuchtgebieten. Manchmal könne eine Art gerade noch vor dem Aussterben bewahrt werden, wie etwa das Bodensee-Vergissmeinnicht, das früher an vielen Seeufern beheimatet war. Weil es auf schwankende Seespiegel angewiesen ist, kommt es heute nur noch am Bodensee vor. Bei den anderen Seen wird der Spiegel künstlich reguliert, und die Pflanze ist verschwunden.
Insektensterben: Studie war unseriös
Schmid stützt Zügers Befund, dass ein allgemeines Insektensterben bis jetzt nicht belegbar sei. Er geht noch weiter und kritisiert die Untersuchung, die hinter den entsprechenden Schlagzeilen stand. Die Krefelder Studie von 2017 sei schlecht geplant gewesen, sagt er. Darin seien Vergleiche über eine Zeitspanne hinweg gemacht worden, man habe dafür aber nicht genau die gleichen Flächen angeschaut. Dies sei wissenschaftlich nicht seriös. Bis heute gebe es keine präzisen Daten zur Entwicklung der Artenzahl und der Biomasse bei den verschiedenen Insektengruppen.
Trotzdem hat sich das «Insektensterben» in den Köpfen festgesetzt. In der Schweiz habe es zahlreiche Forschungsprojekte ausgelöst, sagt Schmid. Sie hätten aber noch keine eindeutigen Resultate hervorgebracht.
Zügers Kritik an der Biodiversitätsinitiative teilt Schmid allerdings nicht. «Der Bauernverband müsste eigentlich für die Initiative sein, weil sie den Bauern hilft», sagt er. Sie sichere bloss das Erreichte ab. Einig geht er mit Züger aber darin, dass Praktiker nützlicher seien als Akademiker, die ihre Expertise vor längerer Zeit erworben hätten. Da das Thema sehr komplex sei, fehle vielen das nötige Faktenwissen. Dennoch brauche es weiterhin auch Reservate. Die hochsensiblen Hochmoore beispielsweise solle man einfach in Ruhe lassen.