Die Velo-Titelkämpfe in Zürich waren ein Riesenevent, der die Stadt und die Region an ihre Grenzen brachte. Eine Bilanz.
Als am Sonntagnachmittag plötzlich ein Sanitätswagen sowie etliche Polizeifahrzeuge mit Blaulicht und Sirene die Zürichbergstrasse hinaufjagen, geht ein Schock durch Tausende von Fans am Strassenrand: Sie mussten an den tragischen Unfall vom Donnerstag denken, als die 18-jährige Muriel Furrer ums Leben kam.
Am Zürichberg, wo gerade noch gejohlt und applaudiert wurde, stellt sich gespenstische Ruhe ein. Die Entwarnung lässt zum Glück nicht lange auf sich warten: Ein kasachischer Fahrer zog sich bei einem Sturz höchstens ein paar Schrammen zu. Doch die Minuten der Ungewissheit waren beispielhaft für die Stimmung der vergangenen Tage: Die Rad-Weltmeisterschaften in Zürich standen unter einem schlechten Stern.
Es begann früh: Die Bevölkerung und das Gewerbe wurden zu wenig in die Planung eingebunden, die Vorfreude hielt sich in Grenzen. Als die WM dann da waren, drehte das Wetter und liess viele der Wettbewerbe im Nebel und Regen versinken. Und das zweite Wochenende, der eigentliche Höhepunkt des Anlasses, wurde von Muriel Furrers Unfalltod überschattet.
Was sind die Lehren aus dem Grossanlass? Was kann Zürich für künftige Veranstaltungen mitnehmen? Neun Erkenntnisse nach neun Tagen «Zurich 2024»:
Die Behörden müssen besser informieren
Wenn in diesem Ausmass Strassen gesperrt werden, muss man die Bevölkerung frühzeitig und vor allem besser informieren. Wie das im Jahr 2024 geht, machte der Zürcher Verkehrsverbund für den öV vor: Wer in der Fahrplan-App eine Verbindung von A nach B suchte, bekam eine an die täglich wechselnden Sperrungen angepasste Auskunft. Für Auto- oder Velofahrer hingegen gab es kein vergleichbares System. Die amtlichen Informationen bestanden vor allem aus viel Text und nicht ganz einfach zu interpretierendem Kartenmaterial.
Die Folge: Selbst Anwohner, die den Rad-WM aufgeschlossen gegenüberstanden, kritisierten, dass ihnen nicht klar gewesen sei, an welchen Tagen bzw. zu welchen Uhrzeiten und wie sie ihr Haus noch erreichen. Eine serviceorientierte Organisation sollte für solche Fälle eine leicht zu bedienende digitale Lösung finden und sicherstellen, dass die Informationen möglichst alle Betroffenen erreichen. (hub.)
Feiern kann man auch in Aussenquartieren und auf dem Land
Es muss nicht immer das Stadtzentrum sein. Die Volksfeststimmung im Aussenquartier Schwamendingen hat es während des Zeitfahrens der Männer eindrücklich bewiesen. Dort herrscht, im Gegensatz zur City, kein Überfluss an öffentlichen Grossanlässen – und daher auch kein Überdruss. Gleiches zeigte sich in Ortschaften ausserhalb der Stadt wie beispielsweise Gossau, wo Rennen starteten.
In der Stadt Zürich gibt es mehrere Nebenzentren, welche die Stadtplaner fördern wollen, um den Druck auf die Innenstadt zu lindern. Dies sollten die Behörden auch bei der Bewilligung und Lenkung von Grossanlässen vermehrt beherzigen. Für Rad-WM mag das Seebecken wegen der werbewirksamen Kulisse ein entscheidender Vorteil sein, aber nicht für jede Veranstaltung ist dies zwingend.
Warum nicht einmal ein grosses Zürcher Fest in Oerlikon, Altstetten oder in Zürich-West, zwischen Prime Tower und Schiffbau, veranstalten? Diesen Stadtteilen würde das guttun. (hub.)
Die Einschränkungen dürfen nicht zu extensiv sein
Dieses Jahr wurden erstmals Strassen- mit Para-Weltmeisterschaften kombiniert. Ein weiteres Novum: Jedes Rennen endete auf der gleichen Ziellinie beim Bellevue.
Die Einschränkungen, die daraus resultierten, dauerten einfach zu lange. Die Nutzung der Innenstadt durch die WM war zu extensiv. Zudem waren die Strassensperrungen am Gros der Renntage nicht verhältnismässig. Auf den Routen war stundenlang nichts zu sehen. Echte Volksfeststimmung kam bloss bei den Einzelzeitfahren der Elite am ersten Wochenende und am Strassenrennen der Männer am letzten Renntag auf.
In kleineren, radverrückten Orten sind die Weltmeisterschaften besser aufgehoben, so etwa im flämischen Löwen, wo vor drei Jahren die ganze Stadt hell begeistert war. Im Grossraum Zürich, wo sonst schon so viel läuft, hielten die WM eher den Betrieb auf, als dass der Event die Menschen wirklich begeistert hätte. (tma.)
Ein Anlass ist nicht automatisch gut, nur weil «Velo» draufsteht
Zürich will unbedingt eine Velo-Stadt sein. Die rot-grüne Verkehrsplanung ordnet dem Zweirad alles unter. Klar, dass die Stadtoberen sofort Feuer und Flamme waren, als es darum ging, die besten Radsportler der Welt an die Limmat zu bringen. Für sie wurde der rote Teppich ausgerollt, neun Tage Sperrungen und Einschränkungen, dazu mehr als 10 Millionen Franken an Steuergeldern und Hunderte von Zivilschützern als Streckenposten.
Ganz anders lief es vor sechs Jahren, als die Formel E in der Enge gastierte. Der Anlass sorgte ebenfalls für eindrückliche TV-Bilder und volle Hotelzimmer. Im Gegensatz zu den üppig subventionierten Rad-WM war das Elektroautorennen aber komplett privat organisiert und finanziert. Rot-grüne Politiker taten alles, um den Anlass zu behindern. Es blieb denn auch bei der einmaligen Austragung – obwohl sich die Belastung für die Stadt auf ein Wochenende und ein Quartier beschränkte.
Velo gut, Auto böse – diese Denke bringt Zürich nicht weiter. Wenn es um Grossanlässe geht, sollten Politiker und Behörden rein rational entscheiden, was für die Stadt am sinnvollsten ist. Die ideologische Brille sollten sie ablegen. (dfr.)
Zu viele Organisatoren verderben den Brei
Die Organisation der Rad-WM war äusserst komplex – gerade weil so viele mitredeten. «Eine Mammutaufgabe», das hörte man immer wieder. Allein in der Stadt Zürich waren mindestens zwölf Verwaltungseinheiten beteiligt. Stadtrat Daniel Leupi listete sie kürzlich im «Tagblatt» auf: DAV, PSS, Stapo, TAZ, ERZ, VBZ, EWZ, SRZ, GSZ, SPA, WVZ, SAM. Dazu kamen diverse kantonale Stellen und solche aus den betroffenen Gemeinden.
Ein Kürzel mischte besonders eifrig mit: die UCI, die Union Cycliste Internationale. Der Weltradverband, so hört man von ge- bzw. überforderten Verwaltungsmitarbeitern, stellte enorm viele Bedingungen und machte hohe Auflagen. Erst als sich die Spitäler und das Gewerbe mit Klagen gegen die verordnete Verkehrsführung wehrten, soll er sich ein Stück weit verhandlungsbereit gezeigt haben.
Für künftige Grossevents gilt es mitzunehmen: Ein Verband kann zwar etwas fordern, aber die lokale Bevölkerung sollte immer vorgehen. Sie haben die diversen Verwaltungsstellen in erster Linie zu vertreten – nicht die Sportfunktionäre. Da darf man ruhig energisch verhandeln. (dfr.)
Das Gewerbe sollte einbezogen werden
Es war im Vorfeld das dominierende Thema dieser WM: das einschnürende Verkehrsregime, welches bei vielen Gewerblern für Umsatzeinbrüche sorgte. «Wir sind im Schnitt bei minus 20 Prozent Umsatz», sagt Dominique Zygmont von der City-Vereinigung Zürich, die vergangene Woche bei ihren Mitgliedern nachgefragt hat. Im Seefeld seien die Einbussen noch höher, sagt Zygmont: «Im Detailhandel ist damit der Gewinn weg.»
Nicht nur die reguläre Kundschaft fehlte, auch Fans waren zumindest unter der Woche nur wenige auszumachen. Da half es nicht, dass die Gastrolokale innerhalb des Festperimeters sogar auf den Trottoirs hätten auftischen dürfen. Von Montag bis Freitag war schlicht zu wenig los. Da erstaunt es wenig, dass bei der Stadt für die ganze Rennwoche nur zwei Gesuche für Verkaufsstände eingegangen sind, wie die Verwaltungspolizei mitteilt.
Dabei gab es durchaus einzelne Orte, an denen sich ein Geschäft wohl gelohnt hätte. Etwa in Oetwil am See, wo am ersten Rennsonntag während des Zeitfahrens Hunderte Fans beim Bergpreis auf dem Trockenen sassen, weil ein Bier- oder Wurststand fehlte. Was wohl weniger am fehlenden Geschäftssinn als an den Reglementen (keine Werbung an Ständen 50 Meter auf beiden Seiten der Strecke) und den Gebühren gelegen haben dürfte. Jedenfalls hatte niemand bei der Gemeinde um eine Bewilligung angefragt.
Nach den WM ist vor der nächsten Grossveranstaltung. Für die Stadt müsste etwas klargeworden sein. Künftig sollte sie bereits vor dem Start eines Bewerbungsprozesses die möglichen Direktbetroffenen an den Verhandlungstisch holen. (tma.)
Gesperrte Strassen haben auch ihre schönen Seiten
Natürlich war nicht alles schlecht, vor allem mit der richtigen Einstellung. Nicht nur viele Gewerbebetriebe, die ganze Stadt wurde in die Zwangsferien oder zumindest in die Pause geschickt. Für Fussgänger bot sich etwa im Seefeld ein ungewohntes Bild: kein Verkehr auf der gesperrten Dufourstrasse, am oberen Teil der Quartierverbindung war vom WM-Tross, von den Material- und Mannschaftswagen der Athleten lange Zeit nichts zu sehen. Kein Lärm, kaum Autos – fast fühlte man sich wie im Frühling 2020, als während des Shutdowns wegen der Pandemie zwar alles zu, aber alles auch viel ruhiger war. Kein Dichtestress weit und breit.
Quartierläden, deren Inhaber sich nicht unterkriegen lassen wollten, hatten weiterhin geöffnet. Thema Nummer eins in den Gesprächen mit den Stammkunden, natürlich: die Rad-WM. «Es ist weniger schlimm als angenommen», sagte ein älterer Herr, als er in einem Gemüse-Lädeli eingekauft hatte. Für ihn liegt das Geschäft im Seefeld ein paar hundert Meter näher als die Migros. Er war zu Fuss unterwegs, versteht sich.
Staus und Ärger auf der einen, Ruhe und schönes Kaffeetrinken auf den Trottoirs auf der anderen Seite – ein ungleiches Bild, auf das die meisten Zürcherinnen und Zürcher in den kommenden Jahren wohl gerne verzichten dürften. (R. Sc.)
Zürich sieht im Fernsehen phantastisch aus
Es war wie bei der Zugfahrt über den Gotthardpass. Doch statt um die Kirche von Wassen drehte sich am zweiten Rennsonntag alles um das Zürcher Grossmünster: Sieben Runden auf dem «City Circuit» hatten die Männer zum Abschluss der WM zu bewältigen. Die Weltbesten waren gekommen, um die Tortur auf sich zu nehmen. Sie keuchten, schnauften und kämpften gegen die psychologische Zermürbung, die der Rundkurs mit sich brachte.
Die Stimmung an diesem Sonntag war bei den Zehntausenden Fans, die vom Strassenrand zusahen, grossartig. Sie tranken Dosenbier, genossen das herrliche Wetter und feuerten auch den Hinterletzten lauthals an. Die Fernsehbilder an dem Tag waren phänomenal: Zürich erstrahlte in goldenem Herbstlicht, der See glitzerte mit aller Kraft, die Altstadt sah aus wie in einem Ferienkatalog.
Wenn die Weltmeisterschaften Zürich einen Vorteil brachten, dann war es dieser: Die TV-Sequenzen vom Stadtzentrum, vom Aufstieg durch die Zürichbergstrasse und von den Wäldern am Stadtrand waren perfektes Werbematerial. Falls es dafür eines Beweises bedurfte, ist dieser nun erbracht: Zürich gehört zu den schönsten Städten überhaupt. (olc.)
Weniger ist mehr
Rad-WM für alle: nicht nur für Profis, U-23-Fahrer, Juniorinnen und Junioren. In Zürich waren am gleichen Event erstmals auch gelähmte, blinde, amputierte Athletinnen und Athleten und solche mit anderen Beeinträchtigungen am Start. Und es gab ein Volksrennen. Die Inklusion der Para-Athleten steht für eine schöne Idee. Radfahrer mit Beeinträchtigung sollen – anders als an den Paralympischen Spielen – zeitgleich dieselbe Bühne erhalten wie die übrigen Athleten.
Nur: Die Riesen-WM mit mehr als 50 Rennen waren dadurch überladen. Kompaktere Titelkämpfe mit weniger Einschränkungen wären bei der breiten Masse besser angekommen. An den nächsten Rad-WM 2025 in der rwandischen Hauptstadt Kigali stehen wieder nur 13 Rennen auf dem Programm. Wettkämpfe für Para-Athleten gibt es keine, Volksrennen ebenfalls nicht. Auch das gilt es von neun Tagen Rad-WM mitzunehmen: Weniger ist manchmal mehr. (R. Sc.)