Der Chef des amerikanischen Flugzeugbauers wird wegen anhaltender Pannen und Skandale vom US-Senat regelrecht vorgeführt und gerät mehrfach in Erklärungsnot.
Er tut tatsächlich das, was die Angehörigen von 346 Toten, die bei zwei Abstürzen von Boeing-737-Max-Jets 2018 und 2019 ums Leben kamen, seit den Unfällen vergeblich verlangt hatten: Der Boeing-CEO Dave Calhoun ist der erste Verantwortliche, der sich öffentlich zur Schuld des Flugzeugherstellers bekennt.
18. Juni, Anhörung vor dem amerikanischen Senat in Washington: Bevor Calhoun zu seinem Eingangsstatement ansetzt, steht er vom Zeugentisch auf, dreht sich um zu den mehreren Dutzend Familienangehörigen, die direkt hinter ihm sitzen und Fotos der Opfer hochhalten. «Ich möchte mich im Namen aller Boeing-Angehörigen in aller Welt, früheren und jetzigen, für Ihren Verlust entschuldigen. Und ich entschuldige mich für das Leid, das wir verursacht haben», sagt Calhoun mit belegter Stimme.
«Ich akzeptiere, dass MCAS und Boeing für diese Abstürze verantwortlich sind», sagt der Boeing-Chef mit Bezug auf das fatale Stabilisierungssystem für die Steuerung der Max-Jets, dessen Funktionsweise Boeing den Piloten wissentlich verschwiegen hatte.
Solch klare Worte oder gar ein Schuldeingeständnis sind seinem Vorgänger Dennis Muilenberg nach den Abstürzen nie über die Lippen gekommen. Er verschanzte sich hinter Phrasen, zeigte keinerlei Empathie und musste Ende 2019 gehen.
Dave Calhoun war angetreten als der grosse Aufräumer, der Boeing stabilisieren sollte. Doch in seiner viereinhalbjährigen Amtszeit ist alles eher noch schlimmer geworden. Der Beinaheabsturz einer Boeing 737 Max im Januar 2024, bei der sich durch einen Produktionsfehler eine Tür im Flug gelöst hatte, war der traurige Tiefpunkt.
Seit Monaten melden sich immer neue Whistleblower mit immer mehr schockierenden Beweisen dafür, wie dysfunktional grosse Teile des Qualitätskontrollsystems in der Boeing-Produktion immer noch sind. Bisher waren es nach Auskunft von US-Senator Richard Blumenthal mehr als ein Dutzend Whistleblower, «und wir ermutigen weitere, sich an uns zu wenden». Ihre Aussagen widerlegen die stetigen gegenteiligen Beteuerungen der Führungsspitze.
Die allgegenwärtigen Mängel verzögerten die Flugzeuglieferungen des Herstellers, zur Verzweiflung der amerikanischen Fluggesellschaften. Erst nachdem diese personelle Veränderungen bei Boeing verlangt hatten, kündigte der CEO David Calhoun sein Ausscheiden zum Jahresende an. Ein Nachfolger wird derzeit gesucht.
Die Anhörung dient als Ventil für Ärger und Frustration
Der Boeing-CEO auf Abruf ist an diesem emotionalen Nachmittag zu der Anhörung vor einem Unterausschuss des Senats geladen. Man könnte es auch ein Verhör oder Tribunal nennen, das den programmatischen Titel «Boeings zerbrochene Sicherheitskultur» trägt.
Es hat sich viel aufgestaut an Wut, Ärger, Verzweiflung und Frustration über die einstige Ikone der amerikanischen Wirtschaft und der weltweiten Luftfahrt, die in den letzten Jahren zum Schatten ihres früheren Selbst geworden ist. Und es geht nicht nur um Vorgänge in der Vergangenheit, sondern um einen stetigen Strom an neuen Enthüllungen über weitere Pannen und Fehler. Und damit zusätzliche potenzielle Sicherheitsrisiken in der Boeing-Produktion, zuletzt direkt vor der Anhörung.
In seinem Eingangsstatement verwies Calhoun darauf, dass Boeing Sicherheitsbedenken von Whistleblowern anhöre, nur um Minuten später zugeben zu müssen, er selbst habe noch mit keinem von ihnen gesprochen.
Nicht nur das, Vorgesetzte setzten Whistleblower sogar massiv unter Druck, wie im Falle von John Barnett, der bis zu 20-mal am Tag von seinem Chef angerufen wurde und sich schliesslich das Leben nahm. «Ich weiss, dass so was passiert», musste Calhoun einräumen, auch wenn er betonte, Vorgesetzte, die solchen Druck ausübten, würden entlassen. Konkrete Zahlen dazu konnte er aber nicht nennen.
Geradezu absurde Züge nahm die Anhörung an, als es um Calhouns extrem üppiges Gehalt bei offensichtlich magerer Leistung ging. Auf die Frage nach seinem Gehalt antwortete Calhoun zunächst ausweichend: «Es ist eine grosse Zahl.»
Senator Josh Hawley, Republikaner aus Missouri, nahm daraufhin den Boeing-Chef richtig in die Zange und zitierte sein öffentlich bekanntes Einkommen, insgesamt 32,8 Millionen US-Dollar für 2023, 45 Prozent mehr als im Vorjahr, plus 45 Millionen Dollar als «goldener Fallschirm», wenn er zu Jahresende ausscheidet.
«Wenn irgendwer hier einen guten Deal gemacht hat, sind Sie das. Warum sind Sie nicht zurückgetreten?», fragte Hawley. «Senator, ich halte das durch. Ich bin stolz, diesen Job angenommen zu haben. Ich bin stolz auf diese Sicherheitsbilanz, und ich bin stolz auf unsere Boeing-Leute», antwortete Calhoun. «Sie sind stolz auf diese Sicherheitsbilanz?», hakte der Senator ungläubig nach. «Ich bin stolz auf jede Massnahme, die wir ergriffen haben», beharrte Calhoun.
Der Senator aus Missouri liess nicht nach. «Die Wahrheit ist, Mr. Calhoun, dass Sie nicht auf Sicherheit, Qualität und Transparenz fokussiert sind. Das läuft grossartig für Sie.» Der CEO bringe die Amerikaner in Gefahr, seine Arbeiter in tückische Situationen und seine Whistleblower buchstäblich in Lebensgefahr, so Hawley. «Aber Sie werden so gut bezahlt wie nie zuvor. Sie sind das Problem, und ich kann bei Gott nur hoffen, dass Sie diese Firma nicht zerstören, bevor sie gerettet werden kann.»
Natürlich liegt die Ursache der vielfältigen Probleme nicht allein bei Boeing. Erst vergangene Woche hatte der Chef der Luftfahrtbehörde FAA, Richard Whitaker, vor einem anderen Senatsausschuss ausgesagt, dass seine Agentur an Boeings Sicherheitsdefiziten eine Mitschuld trage. «Die FAA war zu wenig vor Ort involviert, zu viel auf Papierkram und zu wenig auf Inspektionen fokussiert», so Whitaker. «Das haben wir in den letzten Monaten verändert, und das dauerhaft.»
Nach seinen Angaben hatte die FAA zuvor bei Boeing und ihrem wichtigen Zulieferer Spirit Aerospace 24 Inspektoren im Einsatz, jetzt seien es etwas mehr als 30. Das Ziel seien 55 Kontrolleure bei beiden Firmen. «Es muss eine fundamentale Veränderung in der Sicherheitskultur in dieser Firma geben, es geht um einen systemischen Wechsel, und es gibt noch viel zu tun», so der FAA-Chef, es stehe noch eine lange Reise bevor.
Dass allerdings die jüngste Anhörung wirkliche Veränderungen bei Boeing bewirkt, daran zweifelt auch der prominente amerikanische Luftfahrtberater Richard Aboulafia. «Bei Boeing hat noch nichts zu Veränderungen geführt, ausser der Frust einer Reihe von Airline-Kunden. Ich bin nicht sicher, was sich als Folge hieraus ändern wird», so Aboulafia gegenüber CNN. «Aber Calhoun muss gehen. Er hat ein starkes Verlangen gezeigt, alles das zu verdoppeln, was schlecht ist.»
Mängel an mehreren Flugzeugtypen werden heruntergespielt
Bei der Anhörung musste sich auch der Boeing-Chefingenieur Howard McKenzie, der neben seinem Boss sass, zu den vielen jüngst bekanntgewordenen Problemen mit und bei Boeing äussern. Der oszillierende Schüttelflug einer 737 Max bei Southwest Airlines im Mai? «Die verfügbaren Daten zeigen, dass es bei diesem Flugzeug einige ungewöhnliche Umstände gab, wir haben keine Bedenken hinsichtlich der Gesamtflotte», so McKenzie.
Die falsch installierten Nietverbindungen an 787-Rümpfen im Werk in Charleston? Die wurden nicht nach den Anweisungen eingebaut, räumt der Chefingenieur ein, aber offenbar seien keine allgemeinen Nacharbeiten nötig. «Das ist in Ordnung, wie es ist», versicherte McKenzie.
Die Beschränkungen bei der 737 Max wegen ihrer problematischen Enteisungsanlage an den Triebwerkseinlässen? Man arbeite an einem Redesign, aber bis zu dessen Einbau sei das Risiko extrem klein. «Wir glauben, die Flotte ist sicher», sagte McKenzie.
Und die Zwischenräume zwischen Rumpfsegmenten bei der 787, von denen der Whistleblower Sam Salehpour im April sagte, sie gefährdeten die strukturelle Sicherheit? Dave Calhoun betonte, man habe viele 787 nach sechs oder zwölf Jahren in der Luft intensiv geprüft, das Ergebnis sei eine «fast perfekte strukturelle Integrität» gewesen.
Also alles gut? Nein. Der Senatsunterausschuss machte direkt vor der Boeing-Anhörung Anschuldigungen eines neuen Whistleblowers publik, die auf erschreckende Weise jenen ähneln, die der verstorbene John Barnett über die 787-Produktion enthüllt hatte. Der jetzt vom Boeing-Inspektor Sam Mohawk erhobene Vorwurf betrifft über 400 schadhafte oder mangelhafte Teile für die 737-Max-Produktion in Renton bei Seattle.
Die minderwertigen Teile sollen zunächst aus den internen Verzeichnissen getilgt und aus dem Verkehr gezogen worden sein, nur um dann später ohne die vorgeschriebene Dokumentation und Reparatur wieder eingeschleust und unter Umständen sogar in Flugzeugen verbaut worden zu sein. So lautet der Vorwurf.
Boeing äusserte sich dazu bisher nicht. Die Familienangehörigen der Max-Opfer in Washington waren umso deutlicher: «Sie gehören ins Gefängnis!», rief Danielle Moore, deren Tochter 2019 in einer äthiopischen Max starb, als Dave Calhoun den Saal verliess. «Sie verdienen 33 Millionen Dollar. Ist es das, was das Leben meiner Tochter kostet? Wie können Sie nachts schlafen?»
Die Angehörigen hoffen jetzt darauf, dass Boeing wegen seiner Versäumnisse doch noch der Strafprozess gemacht wird, die Chancen dafür sind jüngst gestiegen. «Die strafrechtliche Verfolgung ist wichtig, um eine abschreckende Nachricht zu senden», sagte Senator Richard Blumenthal, Demokrat aus Connecticut. «Ich glaube, es gibt jetzt überwältigende Beweise dafür, dass ein Verfahren eingeleitet werden sollte.» Boeing droht damit weiter Ungemach.