Kaum eingeführt, schon geändert: Indem sie das Lieferkettengesetz oder die Nachhaltigkeitsberichterstattung entschlackt, hofft die EU-Kommission, über 6 Milliarden Euro pro Jahr einzusparen.
Müsste die Europäische Union ein «Wort des Jahres» küren – «Bürokratieabbau» wäre weit oben auf der Liste. Unzählige Male hat man den Begriff in den vergangenen Monaten vernommen – erst recht seit dem berühmten Draghi-Report von September, der die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der EU schonungslos aufzeigte. Die Verringerung der regulatorischen Hürden für Unternehmen gilt als eines der Rezepte dagegen.
Mit den geo- und handelspolitischen Umwälzungen der jüngsten Zeit hat der Reformbedarf noch einmal zugenommen: Europa weiss nicht mehr, wie verlässlich einstige Verbündete noch sind, sicher geglaubte Freiheiten sind nicht mehr selbstverständlich. Will man in dieser neuen, rauen Welt bestehen, braucht man eine Wirtschaft, die brummt – und nicht eine, die ihre Zeit mit dem Ausfüllen von Formular 741 vergeudet.
So lässt sich etwas salopp zusammenfassen, was die EU-Kommission am Mittwoch der Öffentlichkeit vorgestellt hat. «Omnibus» nennt sich die Verordnung, weil sie gleich mehrere Gesetze auf einmal verändern soll. Die Auswirkungen davon wären spektakulär, wenn man den offiziellen Verlautbarungen Glauben schenken will: Die Administrativkosten der europäischen Unternehmen sollen um jährlich 6,3 Milliarden Euro sinken, während gleichzeitig private und öffentliche Investitionsgelder in Höhe von 50 Milliarden Euro mobilisiert werden könnten.
Fast alle Firmen werden befreit
Im Visier der Kommission sind Regelwerke, deren Namen selbst schon bürokratische (Über-)Beflissenheit verströmen: die Nachhaltigkeitsberichterstattungs-Richtlinie (CSRD) etwa, das Lieferkettengesetz (CSDDD) oder das CO2-Grenzausgleichssystem (CBAM), auch bekannt als Klimazoll. Sie sollen entschlackt worden – nicht zuletzt, damit Firmen die EU nicht verlassen und Arbeitsplätze erhalten bleiben.
Konkret sollen nur noch grösste Firmen – rund 20 Prozent beziehungsweise jene mit mehr als 1000 Angestellten – präzise Angaben über die Auswirkungen ihrer Geschäftstätigkeit auf Umwelt und Gesellschaft machen müssen. Diese Firmen haben nicht nur den grössten «Hebel», sie verfügen in der Regel auch über spezialisierte Abteilungen.
Das heisst freilich nicht, dass die restlichen 80 Prozent der Unternehmen Knall auf Fall ihre Berichterstattung einstellen dürfen – denn ursprünglich sei dies eine Forderung der Industrie sowie von deren Investoren gewesen, sagte Finanzkommissarin Maria Luís Albuquerque. Der Grossteil der Firmen wäre künftig einfach nicht mehr zur Berichterstattung verpflichtet. Und jene, die es weiterhin bleiben, erhalten dafür zwei Jahre mehr Zeit als ursprünglich vorgesehen.
Gefahr eines Wirtschaftskriegs
Beim Lieferkettengesetz geht die Kommission erst recht mit der Säge vor, obwohl dieses erst im vergangenen Jahr beschlossen worden ist. Die Anwendung des Regelwerks, das die Menschenrechte und umweltpolitische Standards entlang der ganzen Wertschöpfung eines Produkts stärken will, soll um ein Jahr auf 2028 verschoben werden.
Das Gesetz soll ausserdem so überarbeitet werden, dass Firmen nicht mehr für die ganze Lieferkette, sondern jeweils für den «direkten Businesspartner» – also das nächste Glied in der Kette – bürgen müssen. Zudem soll die Prüfung nur alle fünf Jahre notwendig sein. Die Haftung der Unternehmen soll beschränkt werden, was laut Handelskommissar Valdis Dombrovskis auch eine geopolitische Komponente hat: Feindliche Konkurrenten aus dem Ausland könnten EU-Unternehmen in aussichtslose, langwierige Rechtshändel verwickeln – und sich damit einen Wettbewerbsvorteil verschaffen.
Beim Klimazoll, der im Herbst 2023 eingeführt wurde, sollen ebenfalls vor allem KMU entlastet werden. Erst wenn eine Firma jährlich Güter mit CO2-Emissionen von mehr als 50 Tonnen importiert, muss sie sich gemäss den Vorstellungen der Kommission am Emissionshandel beteiligen. Das sind rund 10 Prozent aller Firmen, die allerdings 99 Prozent aller Emissionen vereinigen.
Kein «mea culpa»
Die beiden Kommissare geizten bei der Präsentation nicht mit grossen Worten. Die EU könne ihre Ziele, notabene jene des vielzitierten Green Deal, trotz den angestrebten Vereinfachungen erreichen, einfach auf «schlauere, weniger aufwendige Art», so Dombrovskis. Man könne gar von einem «Win-win-Szenario» sprechen – für die Umwelt und für die Unternehmen. Schliesslich könnten diese nicht wettbewerbsfähig sein, wenn ihnen «die Hände gefesselt sind», so der Lette.
Nur: Für die Bewegungseinschränkung, um bei Dombrovskis’ Sprachbild zu bleiben, verantwortlich waren nicht fremde, böse Mächte, sondern genau die gleichen EU-Instanzen, die nun den Knoten lösen sollen. Darauf angesprochen, sagte Albuquerque, dass sich die Weltlage eben verändert habe und gewisse Texte «unbeabsichtigte Folgen» gehabt hätten. Kurz: Ein «mea culpa» ging der EU-Kommission an diesem Mittwoch nicht über die Lippen, aber stolz auf die Arbeit des Vorgänger-Gremiums scheint man auch nicht zu sein.
«Kahlschlag» oder «Mut zum Rotstift»?
Die nun präsentierte Omnibus-Vorlage – die erste von mehreren – hat freilich noch einen weiten Weg vor sich. Damit die Vorschläge in Kraft treten können, müssen sie vom Parlament und von den Mitgliedstaaten verabschiedet werden. Wenn man die politischen Reaktionen, die aufgrund von Leaks teilweise schon in den vergangenen Tagen geäussert wurden, zum Nennwert nimmt, wird es zumindest von linker Seite erheblichen Widerstand gegen den Bürokratieabbau nach Brüsseler Art geben.
Die SPD sprach in ihrer Stellungnahme von einem «Kahlschlag», der die eben erst verabschiedeten Gesetze zu «zahnlosen Papiertigern» machen werde. Für die Grünen gefährdet die Kommission nicht nur den Green Deal, sondern gleich auch die Menschenrechte. Deutlich wohlwollender äussern sich erwartungsgemäss die bürgerlichen Parteien, die im EU-Parlament und in den meisten Mitgliedsländern die Mehrheit stellen: Europa brauche «den Mut zum Rotstift», so die CDU/CSU – andernfalls sei das «gesamte europäische Projekt» gefährdet.