Samstag, November 23

Lange legte Peking Wert auf das Image, dass es in China keinerlei Antisemitismus gebe. Eine zaghafte Annäherung an Israel fand statt. Nach dem 7. Oktober 2023 schwenkte die KP voll auf die Linie der Israel-Feinde ein.

Als sämtliche internationalen Medien die Tötung des Hamas-Chefs Yahya Sinwar vermeldeten, lautete die oberste Schlagzeile in der englischsprachigen «China Daily»: «Xi inspiziert die ostchinesische Provinz Anhui». Unter der Rubrik «Xi’s Moments» war ein Videoclip zu sehen, in dem der chinesische Präsident mit seiner Entourage eine neu renovierte Gasse aus der Kaiserzeit besuchte. Wie immer präsentierte sich Xi in hüftlanger dunkelblauer Windjacke volksnah, lässig und zurückhaltend. Untermalt wurden die rührseligen Sequenzen von säuselnder Musik. Das Geklatsche der ehrfürchtig vor dem Führer der Nation stehenden Anwohner indes klang seltsam laut und erinnerte an Gewehrsalven.

Einen Tag nach dem Massaker vom 7. Oktober 2023 befand sich der Mehrheitsführer der US-Demokraten im Senat, Chuck Schumer, gerade in Peking. Anlässlich seines Treffens mit Xi zeigte er sich über die Nichtverurteilung des feigen Massenmordes durch Aussenminister Wang Yi (der sonst salbungsvoll den Gralshüter des Weltfriedens spielt) erstaunt und enttäuscht. Doch die mit steifem Lächeln aufgesetzte undurchsichtige Miene von Xi deutete nicht darauf hin, dass die KP Chinas auch nur irgendein Wort des Mitgefühls oder gar der Solidarität mit Israel verlöre.

Politisches Kalkül

Die kommunistische Führung in Peking pflegt sich immer dann um klare Stellungnahmen herumzudrücken, wenn es irgendwo in der Welt brennt und es für China heikel wird. «Unabhängige Aussenpolitik des Friedens» heisst dieses Konzept. Angebrachter wäre die Bezeichnung Opportunismus.

Ob im Ukraine-Krieg oder im Gaza-Krieg, aus geopolitischem Kalkül wollte es sich Peking zuerst mit keinem Akteur verderben. Die neutrale Position (wenn es denn eine solche je gab) hat China inzwischen jedoch in beiden Fällen aufgegeben. Wenn es um den Nahostkonflikt geht, fordert Chinas Aussenministerium regelmässig einen «sofortigen Waffenstillstand» und ruft zur Unterstützung eines unabhängigen palästinensischen Staats auf. Dabei wirkt es absurd, wenn zugleich betont wird, Macht könne Gerechtigkeit nicht ersetzen. Die KP selber führt nur dank ihrer sich selbst verliehenen Macht seit mehr als sieben Jahrzehnten in China das Zepter.

Derweil hat sich Peking bewusst auf die Seite der extrem antiisraelischen Kräfte in der arabischen Welt geschlagen. Die Hamas gilt nicht als Terrororganisation, sondern als legitime Vertreterin palästinensischer Interessen. Entsprechend hat der chinesische Vertreter Ma Xinmin am Internationalen Gerichtshof in Den Haag wiederholt den Standpunkt vertreten, dass der Einsatz von Gewalt durch die Palästinenser als Widerstand gegen eine Besetzungsmacht ein unveräusserliches Recht sei und nichts mit Terrorismus zu tun habe.

Im Juli organisierte die KP in Peking eine Konferenz zur Vermittlung zwischen der Fatah, der Hamas und anderen rivalisierenden Palästinensergruppen. Diese sollten sich versöhnen und dadurch den Eindruck erwecken, China habe sich erfolgreich als Friedensstifter etabliert. Wie bei anderen diplomatischen Aktionen solcher Art wollte sich China auch diesmal als Anwalt der vom «Norden» Unterdrückten präsentieren, mit dem Ziel, sich selbst die Türen zu den Schwellenländern politisch und wirtschaftlich weiter zu öffnen. Allerdings kann nicht verborgen bleiben, dass es Peking weniger um konkreten Frieden als vielmehr darum geht, Washington als internationalen Kriegstreiber, Waffenlieferanten für Israel und Störenfried des Weltfriedens zu diskreditieren.

Auch im Falle des Hizbullah hat sich China auf die Seite der von Teheran unterstützten Terrormiliz gestellt, ohne sie selbstverständlich als solche zu bezeichnen. Kein Wort darüber, dass die Uno-Resolution 1701 aus dem Jahr 2006 (die Peking damals mittrug) vorsieht, den Hizbullah zu entwaffnen, und es der Miliz untersagt, Truppen südlich des Litani-Flusses an der Grenze zu Israel zu unterhalten. Keine Aufforderung Pekings an den langjährigen Verbündeten Iran (von dem es trotz Uno-Sanktionen so viel Öl wie noch nie importiert), einem Waffenstillstand selber durch Einflussnahme Nachachtung zu verschaffen.

Anlässlich der Tötung des Hizbullah-Chefs Hassan Nasrallah hatte das Aussenministerium die Parteien und insbesondere Israel aufgefordert, «unverzüglich Massnahmen zu ergreifen, um die Situation zu beruhigen und zu verhindern, dass der Konflikt eskaliert oder gar ausser Kontrolle gerät». Allerdings hatte Peking sich nicht gescheut, den grossen iranischen Raketen- und Drohnenangriff auf Israel im April als legitime Reaktion auf die Bombardierung des iranischen Konsulats in Damaskus zu rechtfertigen. Regelmässig rügt Peking Israel für seine «wahllosen» Angriffe auf Libanon, versäumt es aber gleichzeitig, die berechtigten Sicherheitsbedenken des jüdischen Staates anzuerkennen.

Antisemitismus ohne Juden?

Lange hatte es ziemlich rosig ausgesehen: China und Israel nahmen 1992 diplomatische Beziehungen auf, nachdem sich Peking unter Mao jahrzehntelang mit den Palästinensern solidarisiert und es zeitweilig sogar Waffen an die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) geliefert hatte. Wirtschaftlich haben sich Jerusalem und Peking nach 2000 so stark angenähert, dass China zurzeit als Israels drittgrösster Handelspartner rangiert. Im Rahmen des Projekts der neuen Seidenstrasse beteiligte sich China an einem Containerhafen in Haifa. Und auch der chinesische Tourismus im Heiligen Land boomte. Selbst rüstungstechnisch kam es zu zaghaften Annäherungen.

Im kulturellen Bereich wurde über Jahre hinweg das Image verbreitet, dass es in China keinerlei Antisemitismus gebe. Man berief sich dabei auf die Gründung jüdischer Siedlungen an der Seidenstrasse schon zur Zeit der Tang-Dynastie im 8. Jahrhundert. Die Kaifenger Juden waren lange Zeit ein gutes Marketinginstrument, um zu belegen, wie tolerant die Chinesen seit Menschengedenken gegenüber Juden seien (und die Mehrheit ist es wohl auch, wäre da nicht die Propaganda der KP).

Nicht fehlen durfte die Geschichte der Juden, die in den dreissiger Jahren vor dem Nationalsozialismus nach Schanghai geflohen waren: Die Chinesen hätten die Verfolgten wohlwollend aufgenommen, heisst es zumeist mit einem Schuss Selbstlob. Auch das mag im Allgemeinen stimmen, doch hatten die Chinesen damals gar nichts zu entscheiden: Es oblag vielmehr den Japanern, über die Geschicke der staatenlosen Juden und ihre «Ghettoisierung» in Hongkou, einem Schanghaier Stadtteil, zu entscheiden. Wäre die Harmonie wirklich so gross gewesen, wären die Juden nach dem Machtantritt der Kommunisten 1949 vielleicht geblieben. Tatsache ist, dass fast alle China wieder verliessen.

Gefährliche Dämonisierung

Und heute? Nach dem Massaker vom 7. Oktober gelten Juden in Chinas sozialen Netzwerken als Schurken und Übeltäter, der Terror der Hamas dagegen wird verherrlicht. Das Online-Netzwerk Weibo wird mit hasserfüllten, infamen Kommentaren geradezu überschwemmt: «Zionisten» seien per se böse und eigentlich «Nazis». Gern wird Hitler gelobt, und Hakenkreuze tauchen auf. Ein chinesischer Influencer mit mehr als neun Millionen Followern schrieb auf der Plattform Douyin, Juden würden seit Tausenden Jahren schon Unruhe stiften, überall da, wo sie sich niederliessen.

Die KP Chinas wäre zweifellos in der Lage, in dem wohl am stärksten kontrollierten Internet der Welt solchen Auswüchsen wirksam entgegenzutreten. Doch dieses Mal verzichten die Machthaber auf Zensur, ja sie setzen im üblen Spiel der Verleumdungen mit Verschwörungstheorien noch eins drauf. So verbreiten chinesische Spionage-Einheiten über gefälschte Online-Konten gezielt Desinformation: etwa dass Juden die USA kontrollieren würden oder dass sie im Zweiten Weltkrieg mit den Japanern kollaboriert hätten (Fugu-Plan).

Der staatliche Antisemitismus zu Zeiten Stalins hatte einen katastrophalen, bis heute spürbaren Einfluss auf die Gesellschaft der Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Ähnlich destruktives Potenzial birgt die heutige chinesische Dämonisierung Israels und der Juden. Die Geister, die man hier grobfahrlässig ruft, wird man so schnell nicht loswerden, und sie könnten sich am Ende auch gegen die Kommunisten selber wenden. Wie sich in der Geschichte gezeigt hat, steht die Eruption von Judenhass nicht selten am Anfang von grösseren welthistorischen Kataklysmen.

Matthias Messmer ist Sozialwissenschafter, Berater und Autor.

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