Sonntag, September 29

Mit seiner jüngsten Produktion am Theater Basel liefert der Schweizer Regisseur einen bitteren Abgesang auf eine reaktionäre Kaste. So düster waren seine Szenen noch nie.

Der Titel wirkt wie ein heimtückisches Versprechen: «Doktor Watzenreuthers Vermächtnis – Ein Wunschdenkfehler». Das Setting ist so öde, dass einen grauen könnte: Ein Fest im Stile einer Vorstandssitzung mit Traktandenliste samt Testamentvollstreckung und Floskel-Reden. Klaus und Maria feiern Goldene Hochzeit – sie sind allerdings bereits in stählerne Urnen verpackt. Die junge Nadja mit ihrem Cello wird hingegen eben 17 und verleiht der Feier musikalischen Glanz (grandios vielseitig: Nadja Reich).

Duri Bischoff hat für dieses seltsame Szenario einen langen Vorstandstisch in den ledergepolsterten Führungsbunker gebaut, ein wahres Verlies in Endzeitstimmung. Urnen und Amphoren, wohin das Auge blickt. Wer wird da noch lebend rauskommen? Vorerst platzt die Festgesellschaft laut und aufgekratzt in den Grabsaal.

Geld und Geschmack

Der Regisseur-Komponist-Dirigent Christoph Marthaler setzt seine Schauspieler dabei ein wie Musikinstrumente: Die raumfüllende Lachfurie Vera Flück im Leopardenlook, den vielsprachig brabbelnden Graham F. Valentin, Carina Braunschmidt mit ihrem kontrapunktischen «Schweigegelübde», den mausgrauen, um Worte ringenden Ueli Jäggi und all die andern. Man kennt sich in der Familie und erstarrt bald wieder in eisigen Mienen und verspannten Körpern.

Speisen werden abgetragen, bevor man zugreifen kann. Die Eismaschine läuft Amok. Das Porträt des Ahnherrn wird immer der neuesten Kunstrichtung angepasst. Man hat schliesslich Geld und Geschmack. Das erinnert an Absurditäten von Luis Buñuel und Jacques Tati. Aber es handelt sich um Facetten und Verfahren des ureigenen Marthaler’schen Kosmos.

Da sind die repetitiven Muster und Loops, die Phrasen schlagen wieder Purzelbäume, das ganze Sprachgefüge folgt musikalischen Gesetzen. Und natürlich singen sie wieder, die Schauspielerinnen und Schauspieler, mehrstimmig und zum Sterben schön, von Bach-Chorälen bis zum dutzendfach gecoverten Soul-Schlager «If You Don’t Know Me By Now“. Marthaler kennt seine Pappenheimer. Er klopft aus ihren Floskeln und Phrasen den ideologischen Ungeist hervor oder auch mal ein latent schlechtes Gewissen.

Minutenlang starren alle auf ihre Hände, schnüffeln gegenseitig daran. Sie ahnen, dass da etwas stinken könnte, das mit Waschen nicht einfach weggeht. Und prompt stürmt ein Polizeitrupp in Kampfmontur den Saal und führt alle in Handschellen ab. Nur Sekunden später platzt die Gesellschaft mit ihren Lachsalven wieder herein – alles nur ein böser Traum!

Fast zu früh am Abend fällt ein Kernsatz, den die junge Nadja der Festgesellschaft unter die Nase reibt: «Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern das Weitergeben der Flamme.» Das Zitat des Reformsozialisten und Pazifisten Jean Jaurés benennt das Grundthema dieser Inszenierung: Rückwärtsgewandtheit, Erstarrung, Zukunftslosigkeit. Weitere Fremdtexte von Jürg Laederach, Emmy Hennings, Richard Wagner oder Comte de Lautréamont unterstreichen diese schmerzliche Dialektik.

Der Saaldiener, eine urtypische Marthaler-Figur (herrlich staubtrocken: Peter Keller, pensionierter Inspizient des Theaters), wird zum heimlichen Regisseur des Abends. Er präsentiert einen absurden Familienstammbaum, der sich nach oben völlig ausdünnt. Ein aussterbendes Geschlecht.

Am bissigsten aber wird der Abend in den Redeteilen, die der wendige Raphael Clamer – nach einem irrwitzigen Perkussion-Solo durch den ganzen Raum – verführerisch deklamiert. Als Einziger trägt er einen smarten, nicht aus Stil und Zeit gefallenen Anzug (Kostüme Sara Kittelmann). Aber auch bei ihm werden am Schluss die Nähte platzen.

Die rechte Avantgarde

Clamer präsentiert in verdichteter Form das Narrativ der neuen Rechten: Wir sind heute die wirkliche Avantgarde! Die Reaktionäre, das sind die andern, die verhockten Gutmenschen und vermeintlichen Kulturbewahrer. Aus einer Urne hört man für Sekunden die Stimme des eifernden Roger Köppel – es ist wie die Büchse der Pandora, die sofort wieder geschlossen wird. Diese Umwertung, das Verschwinden des Emanzipatorischen aus dem Avantgarde-Begriff scheint Marthaler gehörig auf den Wecker zu gehen.

Am Schluss bricht die Bühne ein, alle Akteure verenden, ein Eingemauerter verschafft sich Gehör mit einem langen, verzweifelten Stakkato: «…einziges Loch / aus der Schwärze / anders / keinesfalls so!» Marthaler war ja nie nur lustig oder komisch. Seit seinen frühesten Basler Soldatenliederabenden sind seine Produktionen immer auch grundiert von einer stillen Verzweiflung. Schon immer war da dieses wache Sensorium für Prä-, Post- und Krypto-Faschistoides. Aber so bitter und düster wie diesmal waren seine Theaterbilder noch nie.

Exit mobile version