Sonntag, September 29

Das Unternehmen ArcelorMittal Kriwi Rih hat Kriege und Krisen überlebt. Seit Russland das Land angegriffen hat, fehlt es an Strom, Personal und Absatzmärkten. Die Hoffnung auf Besserung schwindet.

Ein Land im Krieg braucht Stahl. Die Ukraine braucht ihn als Symbol der Verteidigung. Und sie braucht das Geld aus dem Export des wertvollen Materials. Doch Stahl braucht auch viele andere Ressourcen, die im Krieg knapp sind: Geld, Arbeiter, Energie. Die grösste Fabrik des Landes wäre heute strategisch wichtiger als je, aus ihrem Stahl werden Schutzwände für Kraftwerke und wohl auch Waffen gebaut. Doch zweieinhalb Jahre nach Russlands Invasion ist ungewiss, ob das Werk von ArcelorMittal in Kriwi Rih überhaupt eine Zukunft hat.

Auf fast zehn Quadratkilometern erstreckt sich der Komplex vom Bahnhof her nach Süden. Seit im August 1934 der erste Hochofen Stahl produzierte, bauten die Ingenieure nicht nur Dutzende von Fabrikhallen, sondern auch eigene Kohleminen und Kraftwerke. Ohne sie wäre Kriwi Rih, der Geburtsort von Präsident Selenski, nur eine Provinzstadt.

Zeitreise durch ein gigantisches Fabrikgelände

Die Fahrt durch das Gelände gleicht einer Zeitreise. Hinter dem Schlagbaum am Eingang eröffnet sich ein Gewirr von Leitungen und Röhren auf beiden Seiten der Strasse. Durch sie fliessen Gas, Sauerstoff und Wasser. Einige rosten, von anderen löst sich das Isolationsmaterial. Dahinter türmen sich zwei Metallgerippe auf, Überbleibsel von aufgegebenen Kühltürmen.

18 000 Menschen arbeiten hier. In Sowjetzeiten waren es dreimal so viele. Doch immerhin läuft die Produktion: Russlands Invasion hatte sie 2022 vorübergehend zum Stillstand gebracht. Es ist nicht die erste lebensbedrohliche Krise, die das Stahlwerk in Kriwi Rih erlebt hat. Bereits sein Bau im Stalinismus erforderte in den dreissiger Jahren so viel Geld, dass er nur durch den massenhaften Verkauf von Getreide ins Ausland zu finanzieren war. Die Sowjets zwangen es den Bauern ab, die deshalb im Holodomor millionenfach verhungerten.

Dann kam der Zweite Weltkrieg. Die Rote Armee zerstörte 1941 die Fabrikhallen, damit sie nicht der Wehrmacht in die Hände fielen. Als sich die Deutschen drei Jahre später zurückzogen, taten sie das Gleiche. Nach dem Krieg wurde Kriworischstal zu einem der wichtigsten Unternehmen der ganzen Sowjetunion. 14 Jahre nach deren Zerfall kaufte der heutige indische Besitzer ArcelorMittal das Unternehmen 2005 für 4,8 Milliarden Dollar und modernisierte es. Zumindest teilweise: Der sowjetische Geist bleibt spürbar im metallurgischen Kombinat – in den Denkmälern für die Helden der Arbeit, in der Bausubstanz, in der Redeweise der leitenden Angestellten.

Einer von ihnen heisst Wladislaw Tjurin. Er leitet die sogenannte Stranggussanlage, die in einer grossen Halle untergebracht ist. Ein schwer fassbarer Geruch liegt in der Luft, der an Feuer, Teer und Treibstoff erinnert. «Wir produzieren rhythmisch und durchgehend, in 12-Stunden-Schichten», sagt der 40-Jährige. 208 000 Tonnen Stahl stellten Tjurin und seine Mitarbeiter im Mai her.

Heisses Eisen für den Export

Gefüttert wird die Produktionsanlage von einem Hochofen. Darin vermischen die Arbeiter Eisenerz, Koks-Kohle und weitere Materialien mit heisser Luft. Das Produkt ist flüssiges Roheisen, das in Giesspfannen abgefüllt wird: Von einem Kran gesteuert, fahren diese riesigen Kessel auf Schienen zwischen Decke und Boden durch die hohe Halle.

Über dem Verteiler wird das 1550 Grad heisse Eisen ausgegossen und in ein Becken gefüllt. Während die Arbeiter im Kontrollzentrum prüfen, ob die Zusammensetzung stimmt, entnehmen Männer Proben direkt aus dem flüssigen Metall. Ihre silberne Schutzkleidung sieht aus wie ein Raumanzug aus einem James-Bond-Film der siebziger Jahre.

Die Masse fliesst durch eine Öffnung in einen Raum aus Metall, der einen Stock tiefer liegt. Dort wird sie mit 2000 Litern Wasser pro Minute abgespritzt und auf 400 Grad abgekühlt. Noch weich, aber in fester Form, bewegt sich der rotglühende Stahl auf einem Fliessband zum Boden der Halle. Eine funkensprühende Gas-Säge, eine sogenannte Sauerstofflanze, zerschneidet das Metall in 12-Meter-Barren. Sobald diese ausgekühlt sind, kommen sie direkt auf die Eisenbahnwagen, die im hinteren Teil der Halle warten.

Vor Russlands Angriffskrieg gingen 85 Prozent des Stahls in den Export, unter anderem für den Bau des Burj Khalifa. Dann aber blockierte Moskau bis 2023 die Schwarzmeerhäfen und damit die Lebensader der ukrainischen Wirtschaft. ArcelorMittal musste auf den Landweg ausweichen, der teurer und weniger leistungsfähig war. Inzwischen hat Kiew einen Korridor im Schwarzen Meer freigekämpft. Die Exporte nahmen im letzten Jahr wieder zu.

Das Stahlwerk konnte wieder mit halber Kapazität operieren und hoffte nach zwei Jahren mit hohen Verlusten für 2024 auf eine ausgeglichene Rechnung. Doch der Krieg hat diese Pläne zunichtegemacht: Just diese Woche musste das Management ankündigen, dass es die Produktion zurückfahre. Als Grund nannte es den Rückgang der Nachfrage auf den Weltmärkten und die weiterhin hohen Transportkosten, die einen Verkauf unrentabel machen. Ab Oktober wird Tjurins Stranggussanlage für mindestens 45 Tage abgeschaltet. Die Belegschaft soll mit anderen Arbeiten beschäftigt werden.

Tausende von Arbeitern in der Armee

Ungelöst sind auch die Personalprobleme, die der Krieg geschaffen hat. Probleme, die ArcelorMittal Kriwi Rih mit fast allen Unternehmen im Land teilt. 3500 Arbeiter des Werks wurden in den letzten zweieinhalb Jahren in die Armee eingezogen, fast 200 von ihnen sind gefallen. Dazu kommen jene, die geflohen sind. «Wir versuchen alles, um neue Leute zu rekrutieren», sagt Wladislaw Tjurin. «Aber so schnell dauert es eben nicht, bis man Spezialisten ausgebildet hat.»

ArcelorMittal spricht deshalb verstärkt Frauen an. Sie sollen die Lücken füllen, auch in der Schwerindustrie, wo traditionell fast nur Männer arbeiten. «Die ganz schweren Arbeiten machen die Frauen nicht», sagt der 40-jährige Tjurin. Doch sie sind sichtbarer geworden – im Kran, der die riesigen Giesspfannen voller heissen Metalls steuert, beim Transport oder auch in der betriebseigenen Reparaturwerkstatt.

Dort sind inzwischen knapp die Hälfte der 260 Angestellten weiblich. Am Eingang der 25 000 Quadratmeter grossen Halle grüsst ein gemaltes Poster aus sowjetischer Zeit mit einem Kleinkind. «Papa und Mama!», ruft es den Arbeitern zu. «Haltet euch an die Sicherheitsvorschriften, denkt daran, ich warte zu Hause!» Dahinter reihen sich Werkbänke für die Herstellung spezieller Schrauben, Zahnräder und Rohre neben fünf Meter hohen Podesten. An ihnen werden bis zu 100 Tonnen schwere Stahlkonverter gewartet.

Eine, die neu hier arbeitet, ist Natalja Subowa. Die 44-Jährige gab Schülern Nachhilfestunden in einem Aussenbezirk von Kriwi Rih. Dann kam der Krieg. Die Leute flohen oder hatten weniger Geld, die Kunden blieben aus. «Meine Bekannten sagten mir, dass die Fabrik Leute suche und dass ich hier Karriere machen könne», sagt Subowa. Nun absolviert sie eine dreimonatige Ausbildung zur Mechanikerin – zur «Dreherin», wie sie ihren Beruf in sowjetischer Manier nennt. In der Werkstatt fräst, schleift und dreht sie Präzisionsteile.

Subowa mag die Handarbeit am Metall, denn die meisten Teile werden speziell für eine der Anlagen in der Fabrik gebaut. «Ich gebe ihm ein neues Leben und entdecke immer wieder Teile, die ich nicht gekannt hatte», sagt sie. «Und am Schluss fügen sie sich in ein Ganzes.» Das rege ihre Phantasie an. Zudem habe sie einen anständigen Lohn und eine Krankenversicherung. Dass die Schichten lang sind, findet sie nicht schlimm. Ihr Sohn sei 17 und brauche sie nicht mehr so oft.

Viele Frauen haben die Ukraine verlassen

Auch wenn Arbeiterinnen wie Subowa neue Aufgaben übernehmen, bewirkt ihre Rekrutierung keine Wunder: ArcelorMittal Kriwi Rih hat den Frauenanteil seit 2022 nur von 30 Prozent auf 33 Prozent gesteigert. Das Reservoir an Frauen ist begrenzt, sie stellen die grosse Mehrheit der etwa sechs Millionen Flüchtlinge ausserhalb der Landesgrenzen. Und weil Kriwi Rih regelmässig angegriffen wird, dürfte noch einmal ein Teil in ruhigere Regionen der Ukraine gezogen sein.

Russische Raketen trafen auch das Fabrikgelände von ArcelorMittal mehrfach. Vor einigen Monaten kam dabei ein Arbeiter ums Leben. Am fatalsten war aber eine Attacke, die das werkseigene Kraftwerk zerstörte. Damit fiel eine erhebliche Ressource weg: Statt fast kostenlos den eigenen Strom zu verwenden, muss das Stahlwerk nun der Regierung teure, aus der EU importierte Energie abnehmen. Seine Energiekosten seien nun doppelt so hoch wie die der europäischen Konkurrenz, sagt das Unternehmen. Erschwerend kämen die regelmässigen Stromausfälle dazu.

Beides sind weitere Gründe für die geplanten Produktionskürzungen ab Oktober, und die Lage dürfte sich mit dem baldigen Beginn der Heizsaison noch verschlechtern. Nicht zuletzt fürchten die Stahlkocher von Kriwi Rih, dass ihr indischer Besitzer Lakshmi Mittal irgendwann die Geduld verlieren könnte mit seiner verlustreichen Investition. Im Gegensatz zu den Ukrainern kann er das Land jederzeit verlassen.

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