Freitag, September 27

Die Gewerkschaften ziehen alle Register. Am Sonntag gehörten sie, schon wieder, zu den Gewinnern.

Die Macht des Daniel Lampart kommt aus dem Unscheinbaren. Er, der sich als Jugendlicher punkig-schwarz gekleidet hat, trägt heute oft Anzug und Krawatte – wie seine Gegner. Radikale Forderungen formuliert er mit freundlichem, alterslosem Gesicht. Als sich am Sonntag die Gegner der BVG-Reform zum Siegerbild formierten, stellte er sich an den Rand. Bei ihm gelte es aufzupassen, sagt einer seiner Gegner, er sei einer der klügsten Köpfe in Bundesbern. Es klingt wie ein Kompliment und eine Warnung.

Daniel Lampart, 56, leitet seit vielen Jahren eine politische Schattenmacht, das Zentralsekretariat des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds. Zu seinen Leuten sagt er: «Eure Vorschläge müssen so sein, dass der Bundesrat sie sofort umsetzen könnte.» So beeinflusst er selbst Bundesräte – legendär die Anekdote, wie er in der Pandemie zufällig Guy Parmelin antraf und auf diesen einredete, bis der ihn in sein Büro mitnahm, wo er vor seinen Leuten auf Lampart gezeigt und gesagt haben soll: «Il a une idée!» Er arbeitet viel und verlangt das auch von anderen. Eine Gewerkschaft sollte das Paradies nicht zuerst bei sich selbst einrichten, findet er. Er hätte Bundesämter übernehmen und Hunderte von Leuten führen können, aber er ist immer geblieben. Er sagt: «Wir sind hier 25 Leute und können die Schweiz verändern.»

Im Frühling gelang den Gewerkschaften, was eigentlich nie vorkommt: per Initiative den Sozialstaat auszubauen. Die 13. AHV-Rente war ihr Triumph. Sie haben sich als Vetomacht in der Europapolitik etabliert. An diesem Sonntag gewannen sie auch noch den Kampf gegen die Reform der beruflichen Vorsorge. Und am nächsten Dienstag eröffnen sie bereits den Abstimmungskampf gegen die einheitliche Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen im Gesundheitswesen (Efas).

In Gewerkschaften komme die Wahrheit immer von unten nach oben, sagt Daniel Lampart. In diesem Jahr deckt sie sich mit den Plänen, die von oben kommen, aus seinem Büro an der Monbijoustrasse 61 in Bern. Denn Pierre Yves-Maillard, sein Präsident beim Gewerkschaftsbund, mag das Gesicht der Gewerkschaften sein, aber Lampart ist das Hirn. So wird es erzählt.

Wer ihn begleitet, beginnt zu verstehen, wie die Gewerkschaften funktionieren.

Anarcho-Innerschweizer

Am 1. Mai ist Daniel Lampart der Hauptredner auf dem Sechseläutenplatz in Zürich, aber er steht am Rand, wie ein Gast auf seiner eigenen Party. Er trägt Segelschuhe, ein olivgrünes Jackett und ein Béret. «Stylisch», sagt ein Arbeiter leicht spöttisch. Dann dankt er Lampart «für die Dreizehnte».

Im Publikum gibt es Leute, die «Freiheit für Öcalan» fordern, die Tamil Tigers sind da, und die «Kommunist:innen für den Weltfrieden». Die Leute kämpfen alle ihren eigenen Kampf. Lampart betritt die Bühne und spricht sie mit «Kolleginnen und Kollegen» an, wie auf einem Kongress. Er kann sie nicht vereinen, dafür ist seine Rede zu distanziert. Er redet über die «Bruchpiloten vom Paradeplatz», die «ohne Hilfe abgestürzt wären». Aber die Pointe verklingt.

Lampart ist nicht der Mann für die grosse Bühne, sondern für den strategischen Rückraum. Pierre-Yves Maillard, sein Präsident, bezeichnet ihn als «chien de troupeau», als Hirtenhund. Maillard ist ein welscher Dominator, er gibt den Leuten, was sie hören wollen. Lampart ist ein anarchischer Innerschweizer geblieben, er spricht oft von «Freiheit», und er ist bei den Gewerkschaften, weil er findet, die Leute sollen sich selbst ermächtigen. Maillard geht im Kurzarmhemd an die SVP-Versammlung – und ans rhetorische Limit, um die Brücke zu jenen Wählern wieder aufzubauen, die die SP einst an die SVP verloren hat. Lampart geht seit Jahren in Anzug und Krawatte von einem Sitzungszimmer zum nächsten, um den Boden dafür zu legen.

Er muss die Interessen all jener kanalisieren, die der Gewerkschaftsbund vereinen will: Bauarbeiter wie Verwaltungsangestellte. Wie strategisch er vorgeht, merkt man sofort. Als wir am Telefon abmachen, wohin er sich begleiten lässt, sagt er: «Ich habe kein Interesse, dass Sie die Schwächen der Gewerkschaften sehen» – kurze Pause –, «wenn es die überhaupt gibt.» Als wir Zug fahren, schlägt er vor, in die 2. Klasse zu sitzen. «Da interessieren sich die Leute nicht für uns.» Man kann ihn stundenlang beobachten, es gibt keinen unkontrollierten Moment.

New Wave

Erfolgreich sind in der Politik oft jene, die verschiedene Milieus kennen: weil die Interessen mehrerer Milieus durchschauen muss, wer eine Mehrheit erreichen will.

Mit Daniel Lampart ist der wichtigste Ökonom der Arbeitnehmer der Sohn eines Gewerblers. Aufgewachsen ist er in Hergiswil und in Luzern, wo der Vater ein Elektrogeschäft führte. Er selbst war «früh sehr links, anarcho bis kommunistisch». Er rebellierte gegen die Erwartungen des bürgerlich-konservativen Vaterlands. Es war die Zeit des Kalten Kriegs, zu Hause ging es laut zu und her. «Der Vater, wir Brüder: alles Hitzköpfe.» Bald trug er Schwarz, hörte New Wave und ging zu den Hausbesetzern. Er wurde zwar der Erste in der Familie, der studierte und später promovierte, aber er machte keine bruchlose Karriere. Er jobbte auf Baustellen, als Kino-Operateur. Eigentlich wollte er Berufsmusiker werden, Kontrabassist, eine Zeitlang lebte er auch davon, aber dann verleidete ihm die ewige Warterei in den Orchesterproben. Er fragte bei der Notschlafstelle nach: «Haben Sie einen Job?» Aber es kam eine Absage. Vorderhand landete er im Zahlungsverkehr der Zürcher Kantonalbank.

Der Vater verstand ihn je länger, desto weniger. Er konnte nicht wissen, dass ausgerechnet die Umwege durch das Prekariat den Sohn einmal zum Ziel führen würden: So machte er die Erfahrungen, von denen er als Gewerkschafter lebt.

Begegnung mit Büezer

Als er am Abend des 1. Mai für eine zweite Rede im Kunsthaus in Interlaken ankommt, spielt Blue Skies, eine One-Man-Band von Roland Wilhelm, auf. Es sind vor allem alte Leute gekommen. Er stellt sich auf die Seite, wo ihm schon wieder einer, jetzt ein Schlosser, für die dreizehnte Rente dankt. Er sagt, man gebe so viel Geld ins Ausland, «da sollte es für die Büezer hier auch noch reichen». Es war das mächtige, rechte Argument für die 13. AHV-Rente, man hört es unter Linken nicht gern. Samira Marti, die Co-Fraktionschefin der SP, wird später in ihrer Rede deklamieren, man lasse sich die Freude nicht von jenen SVPlern nehmen, die nun in grossen Interviews die Abstimmung zum Switzerland-first-Manifest umdeuteten.

Daniel Lampart belehrt den Schlosser nicht, der genau das auch gesagt hat. Er weiss, wie die Leute sind und dass eher nicht gegendert wird, wenn Bauarbeiter bei ihren Gewerkschaftertreffen in der Raucherecke zusammenstehen. Am Fernsehen erwähnte er neulich eine «Anwaltssekretärin, wie man früher sagte». Er betonte es, als kommuniziere er so mit Leuten, die die politisch korrekte Linke längst verloren hat. Die linken Parteien sind ein ideologisches, die linken Gewerkschaften ein klassenkämpferisches Projekt (das auch Arbeiterinnen und Arbeiter an der SVP-Basis abholt). In Lamparts Worten: Die Wahrheit kommt von unten.

Abbado im Gewerkschaftsbund

Man kann sich Lampart nicht in einer dieser dicken Gewerkschaftsjacken mit grossem Logo vorstellen. Er ist ein Intellektueller, er liest gerne ökonomische «working papers» oder die «Financial Times». Am liebsten – so scheint es – spricht er über klassische Musik. Einmal erwähnt er ein nahezu perfektes Konzert: «monumental, mit maximalem Risiko und Gestaltungswillen gespielt». Es ist eine Aufnahme von Gustav Mahlers Symphonie Nr. 2, gespielt vom Lucerne Festival Orchestra, dirigiert von Claudio Abbado. Lampart ist ein Anhänger von Abbado, den er dafür bewundert, wie viel Freiheiten der seinem Orchester gegeben habe – aus der Überzeugung heraus, dass nur so das Kollektiv mehr sei als die Summe der Individuen. Abbados Stil, sagt Lampart, sei völlig revolutionär gewesen: Er hatte in den grossen Konzerthäusern alte, autoritäre Orchesterführer wie Karajan oder Furtwängler abgelöst «und die alten Tanker neu formatiert – mit nichts mehr in der Hand als einem Stab».

Natürlich spricht er jetzt nicht nur über Abbado, sondern auch über sich selbst. So sieht er seine Rolle und die der Gewerkschaften in der Schweiz.

«Urliberal»

Er ist weniger staatsgläubig als zeitgeistigere Linke. Er zieht ausserstaatliche Regeln, ausgehandelt zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, den staatlichen Regeln vor. Die Gewerkschaften bezeichnet er als «urliberale Institutionen»: «Die Idee ist, dass die Leute für sich selbst sorgen können.» Ironischerweise waren die Gewerkschaften jüngst aber eher dann erfolgreich, wenn es darum ging, den Einfluss des Staates auszubauen. Ginge das so weiter, würden sie sich (siegreich) selbst abschaffen: Je mehr staatlich geregelt ist, desto weniger braucht es Gewerkschaften.

In sozialpartnerschaftlichen Fragen ist die Deutungsmacht eher kleiner geworden – wenn wie im September nur ein paar vereinzelte Journalisten an die Pressekonferenz zu den Lohnforderungen kommen, scheint Lampart zu leiden. Er baut dann die bekannte, aber inzwischen arg ritualisierte Drohkulisse der Gewerkschaften mit auf, er stellt hohe Lohnforderungen, und er versucht, durch Gesamtarbeitsverträge oder über die Europapolitik die Macht zurückzuerlangen, aber er weiss, dass er nicht viel in der Hand hat.

Der gerechte gewerkschaftliche Kampf

Seine politischen Gegner, die mit ihm viele Stunden Zug gefahren und in unzähligen Sitzungen gesessen sind, bezeichnen ihn als «Ökonomen, der die Wirtschaft in ihrer Dynamik versteht» – wenn er auch falsche Schlüsse daraus ziehe. «Was von Lampart kommt, muss man genau studieren», sagt jemand, «auch wenn man es nachher verwirft.» Natürlich, sagt ein anderer, sei er «heimlifeiss» genug, dass er in seinen Stellungnahmen stimmig machen könne, was eigentlich nicht stimmig sei. «Er weiss, welche Geschichte er erzählen will. Und er findet immer die passende Zahl dazu.»

Bei seinen öffentlichen Auftritten setzt Lampart die Zahlen wie Verbündete ein – so wie auch Begegnungen, gegen die man nicht argumentieren kann. Immer hatte er gerade «einen früheren Baumeister» am Telefon, der sich bei ihm für die heutigen Baumeister und deren Lohnpolitik entschuldigte. Oder er hat «einen Gleisbauer» getroffen, der «gerechnet und verstanden» hat und zum gleichen Schluss kommt wie er selbst.

Im Abstimmungskampf um die Reform der beruflichen Vorsorge wurde dem Gewerkschaftsbund mehrfach vorgeworfen, er verbreite Falschinformationen – er musste sich auch korrigieren. Dann trat Lampart an einer eigenen Pressekonferenz auf, um dem Bund «irreführende Berechnungen» vorzuwerfen. Ihm musste klar sein, dass es ein geeigneter Zeitpunkt war, um Zweifel zu streuen und zu bewirtschaften: Der Bund war gerade mit Fehlprognosen zur AHV in den Nachrichten. In der «Arena» des Schweizer Fernsehens wiederum sagte er dann, mit unschuldigem, tief betroffenem Gesicht, zu Bundesrätin Baume-Schneider: «Ich bin sehr enttäuscht.» In solchen Momenten verengt sich Lamparts Blick: Er führt dann den gerechten gewerkschaftlichen Kampf.

In seinen pathetischen Momenten ist er aber nicht besonders überzeugend. Wenn er während einer Rede sagt, «nur wir sind die Stimme, nur wir sind die Kraft, die die Welt sozialer macht», dann verliert er seine kühle Präzision. Auf seinem Blog, den er regelmässig schreibt, formuliert er anders. Er braucht keine Grossbuchstaben, er kann Leute auch mit Anführungszeichen desavouieren. Als Serge Gaillard, sein Vorgänger als Chefökonom des Gewerkschaftsbunds, und dessen Expertengruppe neulich Sparvorschläge für den Bund machten, schrieb Lampart nicht von Experten, sondern von «Experten».

Daniel Lampart kennt alle Register, und er zieht sie auch.

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