Die relativ gute US-Konjunkturentwicklung schmälert die Hoffnung auf Zinssenkungen. Entsprechend ist die Rendite der 10-jährigen US-Staatsanleihen auf 4,4% gestiegen. Zusammen mit Verkaufssignalen von Stimmungsindikatoren, die einen sehr grossen Optimismus der Anleger zeigen, könnte dies eine Aktienmarkt-Korrektur im April auslösen.
Entgegen der allgemeinen Erwartungen hat sich die US-Liquidität weiter erstaunlich gut entwickelt. Die steigende globale Überschussliquidität treibt den Weltaktienindex in die Höhe.
Das Gerede von der US-Anti-Inflationspolitik sei ein Witz, urteilt denn auch Investmentstratege Albert Edwards von Société Générale, dessen Newsletter international viel Beachtung findet. Sieht man auf die «Financial Conditions», die ein guter Indikator für die Wall-Street-Liquidität sind, so fällt auf, dass trotz der lange sehr markigen Anti-Inflationsparolen der US-Notenbank de facto eine ganz andere Politik herauskam.
In der Bankenkrise des vergangenen Jahres überschwemmte Federal-Reserve-Präsident Jerome Powell das US-Finanzsystem mit einer einmaligen Liquiditätswoge. Das US-Schatzamt stimulierte die Konjunktur nach 2020 durch die grössten Kreditaufnahmen ausserhalb von Krisenzeiten und einer direkten US-Kriegsbeteiligung. Dies führte dazu, dass die US-Wirtschaft im zweiten Halbjahr letzten Jahres um über drei Prozent wuchs, während der Rest der Weltwirtschaft mehr oder minder stagnierte (ausser China).
Wie künstlich das relativ gute Abschneiden der US-Wirtschaft und der US-Börse ist, zeigt die Tatsache, dass der US-Aktienmarkt seit 2007 (also dem Beginn der fiskalpolitischen Stimulierung und der monetären Ankurbelung) in seiner Börsenkapitalisierung exakt um jenen Billionendollar-Betrag an Wert zugenommen hat, um den die US-Staatsverschuldung und die US-Notenbankbilanzsumme gestiegen sind. Ohne massives Schuldenmachen der Regierung und Aufblähen der US-Notenbankbilanz hätte es also den international besten Aktienmarkt-Aufschwung mit Sicherheit nicht gegeben.
Irrationaler Überschwang erfasst die Finanzwissenschaft
Das gute Abschneiden von Wall Street hat in jüngster Zeit zu Universitätsanalysen geführt, in denen herausgestrichen wird, dass eine 100%-ige Kapitalanlage am US-Aktienmarkt die beste Kapitalanlageform sei. Es wurden sogar schon Vorschläge gemacht, dass besonders jüngere Investoren, ähnlich wie beim Häuserkauf, beträchtliche Schulden beim Aktienkauf aufnehmen sollten. Solche Analysen haben allerdings den Nachteil, dass sie nicht sehr lange in die Vergangenheit zurückgehen: Meist umfassen sie höchstens den Zeitraum seit dem Zweiten Weltkrieg und beziehen auch die Börsenerfahrungen anderer Länder nicht mit ein. Japan konnte gerade erst nach 34 Jahren im Nikkei-Index das historische Hoch von 1989 erreichen (der breiter gefasste Topix schaffte dies noch nicht).
Geht man länger in der Geschichte zurück, lässt sich feststellen, dass man mit Anleihen auch über längere Zeiten in den USA besser abschneiden konnte als mit Aktien (an anderen Börsen ohnehin). Das bessere Abschneiden von Aktien gegenüber Anleihen in den letzten Jahrzehnten dürfte damit zusammenhängen, dass die kurz vor dem Ersten Weltkrieg gegründete US-Notenbank immer stärker in den Wirtschaftsablauf eingegriffen hat, um Rezessionen zu vermeiden. Gleiches gilt für die US-Schuldenpolitik der Regierung.
Im 19. Jahrhundert war der Geldwert über Jahrzehnte in den anglo-amerikanischen Ländern stabil, so dass auch Anleihen oft über viele Jahre besser abschnitten als Aktien. Anders heute: Da die Notenbank-Eingriffe eher zunehmen werden und Abstürze am Aktienmarkt wegen des negativen Effekts auf den Reichtum der Bevölkerung möglichst vermieden werden sollen, werden sich die Aktienmärkte langfristig wahrscheinlich weiter besser entwickeln als Anleihen.
Deutsche Schuldenbremse steht vor der Abschaffung
Auch in Europa lässt sich seit Überschreiten des Verschuldungs-Rubikons durch Draghi eine zu den USA vergleichbare Interventionspolitik zur Unterstützung der Konjunktur und zur Aufrechterhaltung der Zahlungsfähigkeit beobachten. In Europa verschulden sich inzwischen nicht nur die Regierungen, sondern auch die EU selbst. Hauptleittragender ist hier Deutschland, da das Land den grössten Verschuldungsanteil übernimmt, obwohl das Median-Haushaltsvermögen mit 106’000 € pro Kopf in Europa zu den geringeren gehört.
Ganz anders sieht die Situation in Frankreich aus, das sich anders als Deutschland nicht in der Neuverschuldung zurückhält. Frankreich hat eine beachtliche Tradition hoher Verschuldung. Aber auch zuletzt lag die staatliche Neuverschuldung bzw. die Konjunkturankurbelung beim Vielfachen der deutschen Werte. Während Deutschland versucht, die Schuldenbremse zu praktizieren (die eine Neuverschuldung von 0,25% des BIP pro Jahr erlaubt), steuert Frankreich in diesem Jahr auf einen Wert von 6% zu (das französische Senats-Finanzkomitee geht von 5,7% aus). In einzelnen volkswirtschaftlichen Bereichen (Privatverschuldung, Unternehmensverschuldung) überbietet Frankreich nicht nur den angeblichen europäischen Schuldenmeister Italien, sondern kann sich mit dem weltweiten Verschuldungsmeister China messen.
Da es für Deutschland keinen Sinn macht, eine Verschuldungspolitik wie zu Zeiten der D-Mark zu praktizieren (als der Lebensstandard unter anderem durch die stärkere Währung und infolgedessen sinkende Importpreise wuchs), dürfte spätestens nach der Wahl im nächsten Jahr mit einer Beseitigung der deutschen Schuldenbremse zu rechnen sein.
Der erstaunliche Erfolg der Anti-Crash-Politik
Kennzeichen für die neue Politik war auch der Negativzins, bei dem sich in Europa und in Japan die Regierungen bei ihrer Schuldenaufnahme bereicherten. Wie die Konjunkturentwicklung und die Aktienmärkte gezeigt haben, hat die neue Politik der Rekordverschuldung und der rekordniedrigen Zinsen durchaus Aktienmärkte und Konjunktur positiv beeinflusst und Abstürze, wie sie früher üblich waren, verhindert. In den letzten Jahrzehnten ist auch ein klarer Trend zur Verkürzung der Rezessionsdauer in den USA und in Europa zu beobachten gewesen.
Man fragt sich nur, was der Preis für derartige Sünden gegen die Marktwirtschaft und die im Grunde planwirtschaftlichen Eingriffe am Ende sein wird. Alle Crash-Prognosen der letzten Jahrzehnte in Sachen Inflation, Währungsreform oder komplettem Konjunkturabsturz haben sich bisher als falsch erwiesen. Währungsreformen hat es in der Vergangenheit nur bei grossen Inflationen gegeben, die durch ein komplettes Missverhältnis zwischen Warenangebot und -nachfrage gekennzeichnet waren. Falls es wirklich wieder einmal zu einer grösseren Inflationswelle kommen sollte, die zu destabilisierenden Verhaltensweisen der Wirtschaftsteilnehmer führt, ist nur zu hoffen, dass es einen neuen Paul Volcker geben wird, der dann die Inflationsmentalität brechen wird. Inwieweit dies heute ohne soziale Verwerfungen und politische Krisen möglich ist, sei dahingestellt.
Vorerst sind akute Gefahren für die Preisstabilität als Ursache für eine Destabilisierung der Finanzmärkte nicht in Sicht. Besonders im Güterbereich herrschen klar deflationäre Tendenzen vor und die Konjunktur in China (Zwang zu Exportsteigerungen) dürfte die Preise bei vielen Konsumgütern im Zaum halten bzw. drücken. Allerdings hat Donald Trump für den Fall seiner Wiederwahl angekündigt, dass er die Zölle auf alle China-Importe um 60% erhöhen will (in seiner letzten Amtszeit erhöhte er sie um 25%). Solche Massnahmen dürften die US-Inflation beschleunigen und damit, wenn überhaupt, nur kurzfristig gelten.
In diesem Jahr dürften mit hoher Wahrscheinlichkeit – auch aus politischen Gründen – die US-Zinsen gesenkt werden. Für die erste Zinssenkung gibt es eine Wahrscheinlichkeit von 62% für den Monat Juni. Es gibt allerdings auch zunehmend US-Notenbankmitglieder, die wegen der relativ stabilen US-Konjunktur dafür votieren, die Leitzinsen vorerst auf hohem Niveau zu belassen. Allerdings sprechen Indikatoren teilweise dafür, dass sich die Lage in Teilbereichen der Konjunktur (Commercial Real Estate) vor allen Dingen aber am US-Arbeitsmarkt (Zahlen kommen am Freitag) in der Tendenz verschlechtern, so dass die Notenbankpolitik den Blick verstärkt von der Inflation in Richtung US-Arbeitsmarkt wenden wird, also zu den bewährten Mitteln der Konjunkturstimulierung niedrige Zinsen und anhaltend hohe Neuverschuldung (sechs Prozent vom BIP wird erwartet) greifen wird.
Gold und Bitcoin profitieren von der hohen Neuverschuldung
Die Gefahren, die sich aus der ungezügelten Neuverschuldung der US-Regierung einerseits und im Endeffekt laxer monetärer Steuerung der US-Notenbank ergeben könnten, spiegeln sich wahrscheinlich auch in dem massiv gestiegenen Interesse der Anleger (besonders aus den USA) an Krypto-«Anlagen». Markttechnisch ist Bitcoin überkauft.
Angesichts derartiger Unsicherheiten erscheint es weiterhin ratsam, Gold als Anlagealternative in Krisenzeiten mit einzuplanen. Immerhin schnitt Gold nicht nur ab Anfang 2022 (+29% in Euro), sondern auch in den letzten zehn Jahren besser ab als der S&P-500-Index (beides in Euro gerechnet). JPMorgan erhöhte das Gold-Kursziel für dieses Jahr auf 2500 $ je Feinunze, Goldman Sachs auf 2300 $. Charttechnisch erscheinen 2550 $ erreichbar. Gekauft wird Gold am meisten in China, sowohl von Kapitalanlegern als auch von der Notenbank. Die chinesische Zentralbank kauft jetzt bereits seit 16 Monaten ununterbrochen. Nicht vergessen sollte man, dass es sich bei Gold und besonders beim Bitcoin um verhältnismässig liquiditätsschwache Märkte mit begrenztem Umsatz handelt.
Kleinere Aktien gewinnen an relativer Stärke
Lassen Sie mich am Ende meiner Kolumne noch einen Blick zurück werfen: Die vor zwei Wochen herausgearbeitete Möglichkeit eines überraschenden Anstiegs der kleineren US-Aktien und der Value-Titel könnte sich bewahrheiten. Der US-Index der kleineren und mittleren Aktien, der Russell 2000, hat zwar im Gegensatz zu den grossen Aktien (S&P 500) noch kein neues Hoch erreicht, aber das in den vergangenen Wochen gute Abschneiden der kleinen Titel und die beginnende Schwäche der bisher favorisierten grossen Technologie-Aktien ist auffällig.
Die «Magnificent 7»-US-Tech-Aktien stiegen zwar im ersten Quartal noch um 17,8% und machten damit etwa die Hälfte des Index-Anstiegs aus, aber es entwickelte sich eine erhebliche Differenz zwischen den Star-Titeln Nvidia (+82%) und Meta (+40%), während Apple (-10%) und Tesla (-27,6%) den Index drückten. Es fällt also auf, dass die bisherigen Favoriten insgesamt zunehmend relative Schwäche zeigen und die kleineren und mittleren Aktien zunehmend an relativer Stärke (Aufschwung wird breiter!) gewinnen.
Der Vergleich mit 1998/2000 drängt sich hier auf. Damals war die Bewertung der US-Aktien ähnlich wie heute in der Nähe historischer Rekordhochs und die Konzentration der Anlagegelder in wenigen grossen Index-Schwergewichten war nur heute, 2000 und 1929 ähnlich gross. Bevor damals die US-Aktienindizes von den grossen Aktien 2000/2003 in die Tiefe gerissen wurden, kam es 1998/99 zu einer massiven Erholung der zuvor (ähnlich wie in den letzten Jahren) überproportional gefallenen kleineren US-Aktien.
Wie sehr die heutige Situation 1998/99 ähnelt, zeigt auch die in letzter Zeit wieder steigende Advance/Decline-Linie beziehungsweise die wieder grössere Breite des Aufschwungs (nicht eine Indexverzerrung nach oben durch wenige grosse Schwergewichte wie im gesamten vergangenen Jahr). Eine solche Entwicklung würde einem gesünderen Stock-Picker-Markt entsprechen und nicht nur eine Flucht in die «Magnificent 7». Auch die jüngste Präferenz anglo-amerikanischer Anleger für preiswerte Auslandsmärkte spricht dafür, dass die US-Anleger bei ihren Aktienkäufen zunehmend differenzieren und sich an der Bewertung orientieren.
Ein eindeutig positives Signal ist diese Entwicklung jedoch nicht. Denn höhere Auslandsaktienkäufe der US-Investoren waren auch oft Vorläufer von Börsenkorrekturen.
Dieser Artikel ist ein Auszug aus der «Finanzwoche», dem seit 1974 erscheinenden Investmentbulletin von Jens Ehrhardt.
Jens Ehrhardt
Jens Ehrhardt ist Gründer, Hauptaktionär und Vorstandsvorsitzender von DJE Kapital. Nach fünfjähriger Partnerschaft in der seinerzeit grössten deutschen Wertpapier-Vermögensverwaltungs-Gesellschaft promovierte er 1974 über «Kursbestimmungsfaktoren am Aktienmarkt». Im selben Jahr legte er den Grundstein für den Aufbau seiner Firmengruppe, die er von Beginn an leitet. Ehrhardt verantwortet neben seiner Rolle als Vorstandsvorsitzender noch die Bereiche Risikomanagement und Unternehmens-/Anlagestrategie.