Als Bäckerssohn in Zürich entdeckte er die Welt der Bücher und wurde zu einem der besten Kenner der mittelalterlichen Mystik: Der Germanist Alois M. Haas ist 90-jährig gestorben.
Er sei ein schwieriges Kind gewesen, erzählte Alois Haas vor anderthalb Jahren in einem Gespräch mit der NZZ. Der Mutter sei es manchmal zu viel geworden. In der Schule seien Prügeleien an der Tagesordnung gewesen. In der Zürcher Altstadt, wo Haas aufwuchs, wohnten damals die armen Leute. Auf den Gassen trieben sich Clochards und Kleinkriminelle herum. Haas’ Eltern betrieben eine Bäckerei und hatten keine Zeit, sich darum zu kümmern, was die Kinder den ganzen Tag machten.
Dass er einmal Literaturwissenschafter werden würde, ein international renommierter Experte für mittelalterliche Mystik, das hätte Alois Maria Haas damals nicht geahnt. Obwohl er schon als Kind Bücher liebte. Sobald er lesen konnte, ging für ihn eine neue Welt auf. Im elterlichen Haushalt gab es kaum Bücher. Haas las, was er in die Finger bekam. Jugendbücher, aber auch Schundromane, die er für ein paar Rappen bei einem Händler erstand.
Als er zwölf war, schickten ihn die Eltern in die Stiftsschule nach Engelberg. Das war ein anderes Leben. Der Tagesablauf war streng geregelt. Vor dem Unterricht war stilles Studium vorgeschrieben, nach dem Mittagessen gab es eine Stunde Freizeit, dann wieder Unterricht und Studium. Haas war begeistert. Endlich hatte er einen Schreibtisch, an dem er in Ruhe arbeiten konnte. Und Zeit zum Lesen.
Katholik in der Zwingli-Stadt
Bei den Benediktinern lernte Haas die europäische Literatur kennen, die antiken Dichter und Philosophen. Sein Deutschlehrer, ein Pater, brachte Handschriften aus der Bibliothek des Klosters mit in den Unterricht. Und Haas begegnete zum ersten Mal den Autoren, mit denen er sich ein Leben lang beschäftigen sollte: den grossen Mystikern des Mittelalters, Meister Eckhart, Johannes Tauler und Heinrich Seuse.
Dass er nach der Matura Germanistik und Philosophie studierte, habe sich «wie von selbst ergeben», sagte er im Rückblick. Nach dem Studium stand für ihn auch fest, dass er eine akademische Laufbahn einschlagen wollte. Nach der Dissertation habilitierte sich Alois Haas an der Universität Zürich und wurde Ende der sechziger Jahre Professor an der McGill University in Montreal.
1971 wurde er als Professor für deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 an die Universität Zürich berufen – zu einer Zeit, als es nicht selbstverständlich war, dass ein Katholik in Zürich Professor werden konnte. In Zwinglis Stadt gaben die Protestanten den Ton an.
Vereinigung mit Gott
Bis zu seiner Emeritierung 1999 lehrte Haas in Zürich. Mit seinem Forschungsgebiet bewegte er sich weitab von der Zwinglianischen Strenge. Er interessierte sich für Menschen, die frei von den Begrenzungen der kirchlichen Glaubenspraxis die spirituelle Vereinigung mit Gott suchten. Für christliche Denker, die versuchten, das Undenkbare zu denken. Und es in Worte zu fassen.
Mit über zwanzig Büchern und zahlreichen Aufsätzen hat Alois Haas das theologische und mystische Denken des Mittelalters erkundet und dabei immer auch Verbindungslinien gesucht: zur Philosophie des Zen-Buddhismus beispielsweise. Seine Arbeiten über Meister Eckhart und zum theologischen Denken des Mittelalters wurden in mehrere Sprachen übersetzt und sind Standardwerke.
Vor einigen Jahren schenkte er, der ein unersättlicher Leser war, rund 40 000 Bände aus seiner privaten Bibliothek der Universität Pompeu Fabra in Barcelona. In seiner Wohnung am Stadtrand von Zürich türmten sich die Bücher trotzdem zu hohen Stapeln. Er lese nicht mehr so viel wie früher, sagte Haas. Wenn man ihn besuchte, war man trotzdem sofort ins Gespräch über ein Buch vertieft, das er soeben für sich entdeckt hatte. Im vergangenen Jahr wurde Alois Haas neunzig Jahre alt. Am Sonntag ist er nach längerer Krankheit gestorben.