Sonntag, September 29

In den Chefetagen der Schweizer Uhrenmarken herrscht ein hektisches Kommen und Gehen. Das hat mit der erhöhten Nervosität zu tun, die derzeit in der Branche herrscht. Aber nicht nur.

«Wenn sich die Flut zurückzieht», so geht ein französisches Bonmot, «sieht man, wer nackt gebadet hat». In diesem Sinne, meint Jean-Philippe Bertschy, Head of Swiss Equity Research bei Vontobel, der den Satz zitiert, werde man bald merken, welche Uhrenmarken in den letzten Monaten wirklich gelitten haben.

Die Flut, das waren die fetten Post-Covid-Jahre, als eine euphorische Kauflust der Kundschaft die Branche beflügelte. Vorbei: Heute herrscht bei vielen Marken Ebbe in den Bestellbüchern, die Exporte sind eingebrochen, und man sieht etwa, wer einseitig auf China fixiert war, wo derzeit fast nichts mehr geht. Das ist, unter anderem, ein Grund für das hektische Kommen und Gehen, das derzeit in den Chefetagen herrscht: Nie in den letzten 20 Jahren gab es so viele neue Ernennungen, Absetzungen und Rochaden wie dieses Jahr – das CEO-Karussell dreht in schwindelerregendem Tempo.

Wiederholte Rochaden bei LVMH

Beim LVMH-Konzern zum Beispiel wechselte Julien Tornare innert sieben Monaten gleich zweimal sein Amt: Der frühere Zenith-CEO wurde zunächst an die Spitze von TAG Heuer berufen, wenig später vertraute man ihm stattdessen die Marke Hublot an. Bei TAG Heuer rückt Antoine Pin nach, bisher Chef der Bulgari-Uhrendivision. Und bei ­Zenith durfte sich Benoit de Clerck in den Chefsessel setzten, ehemaliger Chief Commercial Officer bei der Marke Panerai, die dem Konkurrenten Richemont gehört. Über allem steht die Ernennung von Frédéric Arnault, Sohn von Konzernchef Bernard Arnault. Er wurde Anfang Jahr zum CEO der Uhrensparte ernannt. Frédéric Arnault war vorher TAG-Heuer-Chef und verantwortet neu die LVMH-Uhrenmarken Hublot, Zenith und TAG Heuer.

Das Organigramm der Uhrensparte von LVMH sieht damit plötzlich ganz anders aus als noch vor einem Jahr. Und das gilt in der Branche ziemlich generell: Egal, ob bei grossen Konzernmarken, Nischenplayern oder Internet-Plattformen – die CEO-Drehtür ist momentan gut geölt.

Auch im Richemont-Konzern ist es jüngst zu mehreren Rochaden gekommen. So wird die bisherige Chefin der Uhrenmarke Jaeger-LeCoultre CEO bei Van Cleef & Arpels, nachdem der dortige Chef, Nicolas Bos, an die Konzernspitze gerufen wurde. Dieser löst dort wiederum Jerôme Lambert ab, der als COO ins zweite Glied zurücktritt. Bei Cartier wiederum, der grössten Konzernmarke von Richemont, übernimmt der bisherige Vacheron-Constantin-Chef Louis Ferla demnächst für CEO Cyrille Vigneron.

Swatch Group als Ausnahme

Sesselrücken gab es aber auch bei unabhängigen Marken wie Audemars Piguet, wo am 1. Januar Ilaria Resta für François-Henry Bennahmias übernahm. Oder bei Nischenbrands wie Greubel Forsey, wo Michel Nydegger für Antonio Calce kommt. Bei HYT löst Vahé Vartzbed Davide Cerrato ab, der zur Marke ­Bremont gewechselt hat.

Die Liste lässt sich fast beliebig verlängern. Bei Favre-Leuba übernimmt Patrik Hofmann (bisher bei Watchbox und früher CEO von Ulysses Nardin), bei der Internet-Plattform Chrono24 kommt der ehemalige Zalando-Mann Carsten Keller ans Ruder, und bei der Konkurrenz Chronext wurde Frederike Knop auf die Kommandobrücke gerufen. Sie ersetzt Philippe Roten, von dem man sich vor ein paar Monaten trennte (und der zuvor bei Favre Leuba CEO war).

Im Gegensatz zum munteren Sesselrücken in der Branche setzt die Swatch Group, von Finanzanalysten für ihre Zahlen gerne kritisiert, im obersten Kader auf Kontinuität – hier gab es dieses Jahr praktisch keine Wechsel. Eine Ausnahme ist die Berufung von Gregory Kissling, bisher Produktechef bei Omega, zum Nachfolger von Breguet-Chef Lionel A. Marca, der seit Mitte 2021 im Amt war.

Kissling war 2003 von Cartier zu Omega gekommen; er gehört zu der kleinen Gruppe, die – unter dem Projektnamen Galileo – mit Swatch-Group-Chef Nick Hayek den Erfolg der Moon­Swatch angeschoben hat. Man darf sich sicher auf neue Impulse von ihm für Breguet freuen.

Neue Strategie, neuer Chef

Personelle Wechsel stehen nicht immer für Machtkämpfe, Strategiewechsel oder Probleme – oft aber schon. Bei Greubel Forsey etwa ist klar, dass der neue CEO Michel Nydegger, Stiefsohn von Marken-Co-Gründer Robert Greubel, eben die Reissleine gezogen hat. Sein Vorgänger hatte dem Unternehmen in der Post-Covid-Euphorie eine wag­halsige Wachstumskur verschrieben: Statt wie zuvor 100 Uhren pro Jahr, wollte er die Produktion auf 500 Stück stei­gern – und dafür einen gigantischen Neubau errichten, dreimal so gross wie das bisherige Gebäude. Der 34-jährige Nydegger trat jetzt auf die Bremse, das Bauprojekt ist gestoppt, in Bezug auf Wachstum wird man vorsichtiger und pragmatischer agieren.

Auch bei Bremont, wo das Geschäftsjahr 2022/23 mit einem Verlust von 13,9 Millionen Pfund geendet haben soll – vor allem weil man ein eigenes Kaliber entwickeln wollte –, ist die CEO-­Ernennung im Zusammenhang mit Pro­blemen zu sehen: Der erfahrene Davide Cerrato soll das Unternehmen, das bisher von seinen Gründern geführt war endlich in die ­Gewinnzone bringen.

Cerrato profitiert von seinen Erfahrungen bei Panerai, Tudor und Montblanc. Nebenbei: Bei HYT, wo er nach zwei Jahren das Handtuch warf, plant sein Nachfolger im Gegenzug ebenfalls einen Kurswechsel: «Wir wollen mehr uhrmacherischen Inhalt», sagt Vahé Vartzbed. Und: Die Zeitmesser sollen kleiner, leichter und tragbarer werden.

Kein gemeinsamer Nenner

Krisen, man weiss es, haben oft personelle Konsequenzen an den Schlüsselstellen zur Folge. Voreilige Schlüsse sind dennoch fehl am Platz, wie Vontobel-Analyst Jean-Philippe Bertschy betont: Einen gemeinsamen Nenner für die vielen Wechsel gebe es nicht. Viel-mehr müsse man die Sache von Fall zu Fall ansehen.

Klar sei, so Bertschy, dass beim LVMH-Konzern die Marken Hublot, TAG Heuer und Zenith in jüngerer Zeit «kein gutes Wachstum» hatten. Überhaupt gehöre die LVMH-Uhrensparte, zusammen mit der Swatch Group, in Sachen Wachstum zu den Schlusslichtern in der Branche. Laut einer von ­Bertschy verfassten Vontobel-Studie weist die Swatch Group über die Jahre 2019 bis 2023 ein jährliches Wachstum (Compound Annual Growth Rate) von 2 Prozent aus, bei der LVMH-Uhrensparte sind es 3 Prozent. Das sei deutlich unter dem Wert für die Schweizer Uhren­exporte im gleichen Zeitraum, der bei 6 Prozent liege. «Es ist sicher nicht abwegig», schlussfolgert Bertschy, «in den personellen Wechseln bei LVMH einen Zusammenhang zu suchen».

Anders verhalte es sich bei der ­Richemont-Gruppe. Mit 9 Prozent Wachstum hat sich die Uhrensparte gut geschlagen, und die Ernennung von Nicolas Bos zum Konzernchef sei für die Zukunft grundsätzlich vielver­sprechend. Als Chef von Van Cleef & Arpels habe Bos einen «phänomenalen Erfolg» ­vorzuweisen. Er habe es vor ­allem auch verstanden, «seine Marke mit Magie aufzuladen» – etwa mit zauberhaften Standauftritten an der Uhrenmesse ­Watches and Wonders. Tatsächlich freut die Personalie die Börsenwelt ganz allgemein: Am Tag der Ernennung stieg die Richemont-Aktie um 5,3 Prozent.

Mit anderen Worten: Man muss die Gründe für das CEO-Karussell differenziert betrachten, zumal ein gewichtiger Abgang mitunter gleich mehrere ­Verschiebungen zur Folge haben kann, wie etwa bei Richemont.

Zwar gilt es zum Beispiel als ­offenes Geheimnis, dass bei Richemont der eher bodenständige Chairman und Hauptaktionär Johann Rupert und der feingeistig-­urbane Cartier-Boss Cyrille Vigneron sehr unterschiedliche Charaktere sind. Die Verdienste von Vigneron indes sind unbestritten. Seine Strategie, bei Cartier die Abenteuer in der Haute-Horlogerie zu stoppen und sich stattdessen ganz auf die grossen Markenklas­siker wie Santos oder Panthère zu konzentrieren, ging auf: Cartier gilt heute in der Uhrenwelt als Nummer 2 hinter dem kaum einzuholenden Monument Rolex.

Es dürfte kaum der Fall sein, dass der nüchterne Zahlenmensch Rupert den Chef seiner erfolgreichsten Marke wegen irgendwelcher Befindlichkeiten wegbefördert hat. Wahrscheinlicher ist, dass der 63-Jährige tatsächlich Lust darauf hatte, vor dem Erreichen des Pensionsalters noch etwas Neues zu ­machen. Seine Rolle seit 1. September – die Position des Chairman of Cartier Culture & Philanthropy – scheint ihm jedenfalls wie auf den Leib geschnitten.

«Die Leute sind nervös»

Generell aber, so glaubt ein Branchen­insider, der nicht namentlich zitiert werden möchte, stünden die Wechsel bei vielen Marken für die Erkenntnis, dass eine neue Dynamik bei ihnen zwingend notwendig sei. Bei LVMH sei die ­Tatsache, dass ein Spross von Bernard Arnault an die Spitze der Uhrendivision gesetzt wurde, in diesem Sinne ein positives Zeichen. Es zeige, dass die Besitzer das Heft in die Hand nehmen und handeln wollen.

Trotzdem: «Die Leute sind nervös – das ist ganz klar», urteilt Branchenkenner Oliver Müller, Co-Autor der regelmässig erscheinenden Marktstudie von Morgan Stanley und Luxe Consult, über die Branche. Und das sei sehr wohl der derzeit wirtschaftlich schwierigen Lage geschuldet. Wenn in einem Konzern ein CEO innert eines halben Jahres gleich zweimal auf dem Marken-Schachbrett verschoben werde, sende das kein gutes Signal aus: «Gerade im Uhrenbereich wären Stabilität und langfristiges Handeln matchentscheidend.»

Man kann es auch so sehen: Bei der Uhrenabteilung von Hermès ist Laurent Dordet seit neun Jahren Managing ­Director; für die Luxusmarke ist er in ­anderen Positionen seit Dezember 1995 tätig. Jean-Fréderic Dufour wiederum leitet seit 2014 die Geschicke der ­Erfolgsmaschine Rolex. Zufall oder nicht, laut der erwähnten Vontobel-­Studie wuchs der Branchenprimus ­Rolex von 2019 bis 2013 jährlich 17 Prozent zu, die Uhrensparte von Hermès gar 32 ­Prozent.


Beilage in der «Neuen Zürcher Zeitung»

Dieser Artikel ist am Freitag, 20. September 2024, im neuen NZZ-Schwerpunkt «Uhren & Schmuck» erschienen. Weitere aktuelle Storys, Reportagen und Interviews aus der 18-seitigen Beilage sind im E-Paper der «Neuen Zürcher Zeitung» zu finden.

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