Samstag, November 23

Noch nie in der fast 140-jährigen Geschichte der Schach-WM waren vor Wettkampfbeginn die Aussichten des Titelverteidigers so gering wie jetzt. Dem Chinesen Ding droht ab Montag ein Debakel gegen einen 18-jährigen Herausforderer aus Indien.

Wie geht es Ding Liren? Kaum je hat sich die Schachwelt kollektiv solche Sorgen um einen einzelnen Spieler gemacht, wie das zurzeit beim 32-jährigen Grossmeister aus China der Fall ist. Im vergangenen Jahr hatte sich Ding zum siebzehnten Schachweltmeister gekürt, ab Montag nun soll er in Singapur seinen Titel gegen den 18-jährigen Shootingstar Gukesh Dommaraju verteidigen. Doch wird Ding den Wettkampf überhaupt durchstehen? Und hat er irgendeine Chance, zu gewinnen? Oder droht vielmehr ein Debakel, ein unwürdiger Schwanengesang des einstigen Wunderkinds aus dem Reich der Mitte?

Die Experten wie die Buchmacher sehen den Herausforderer Gukesh als klaren Favoriten – mehr als 80 Prozent Gewinnchance geben die Online-Wettanbieter dem Inder. Noch nie in der fast 140-jährigen Geschichte der Schach-WM galten vor Wettkampfbeginn die Aussichten des Champions auf eine erfolgreiche Titelverteidigung als so gering wie jetzt.

Magnus Carlsen trat den Titel freiwillig ab

Die Gründe für den grossen Pessimismus liegen auf der Hand. Selbst Ding Liren bezeichnete sich jüngst in einem Interview mit dem Schach-Kanal «Take, take, take» als Aussenseiter. Denn während beim jungen Gukesh in den letzten 18 Monaten alle Indikatoren nach oben zeigten, ging für Ding so ziemlich alles schief.

Dabei lag ihm noch im April 2023 die Welt zu Füssen: Mit seinem Sieg in Astana gegen den Russen Jan Nepomnjaschtschi trat er als Weltmeister die Nachfolge von Magnus Carlsen an, der zwar bis heute die klare Nummer eins der Sportart geblieben ist, aber keine Lust auf weitere WM-Zweikämpfe verspürt und daher freiwillig den Titel abgetreten hat.

Mit dem prestigeträchtigen WM-Sieg hatte sich Ding nicht nur einen Lebenstraum erfüllt, er verhalf auch seiner Heimat nach fast fünfzig Jahren zum krönenden Abschluss des «Grossen Drachen»-Plans, der den chinesischen Triumph im westlichen Schachspiel bei den Frauen und bei den Männern vorsieht, sowohl in der Mannschafts- als auch in der Einzeldisziplin.

Dabei war Ding kaum ein herkömmliches «Produkt des Systems», vielmehr ein herausragendes Talent, das zwar von der Verbandsförderung profitierte, sich aber immer Individualität bewahrte. So entschied er sich, ein Rechtsstudium aufzunehmen (das er mit Diplom abschloss), als schon lange absehbar war, dass er Chinas grösste Hoffnung auf den Schach-WM-Titel sein würde.

Ungewöhnlich war auch seine Wahl des Chefsekundanten für den letzten WM-Match: Wo männiglich einen der zahlreichen starken chinesischen Grossmeister erwartet hätte, entschied sich Ding Liren für den unkonventionellen und chaotischen Richárd Rapport aus Ungarn, der in vielem die Antithese zum ruhigen und bescheidenen Ding ist. Der Erfolg gab dem Chinesen recht.

Ungewöhnlich ist auch Dings öffentliches Auftreten: Während seine heimischen Kollegen in Interviews durch freundlichste Unverbindlichkeit glänzten, nahm sich Ding nicht etwa die robuste Arroganz eines Garri Kasparow oder das unendliche Selbstvertrauen eines Magnus Carlsen zum Vorbild, sondern bestach mit einer geradezu irritierenden Offenheit und Selbstkritik, wie man sie bei den grössten Meistern auf den 64 schwarz-weissen Feldern noch nie angetroffen hatte. Ja, man hielt solche Eigenschaften geradezu für Disqualifikationsmerkmale, wenn es um die höchsten Ehren ging.

Unvergessen bleibt, wie Ding sogar während des letzten WM-Duells freimütig von seinen mentalen Schwierigkeiten und schlaflosen Nächten berichtete. Gleichzeitig legte er eine unfassbare Resilienz an den Tag, steckte Enttäuschungen und verpasste Chancen scheinbar mühelos weg und behielt in den entscheidenden Wettkampfmomenten die Nerven, von denen man meinen konnte, sie seien aus Stahl.

Zweimal liess sich Ding in einer Klinik behandeln

Doch der WM-Titel hatte einen hohen Preis. Ob es der enorme Kräfteverschleiss des Zweikampfs mit Nepomnjaschtschi war, die zahlreichen nicht schachlichen Verpflichtungen als neuer Weltmeister oder einfach die natürliche Leere nach dem Erreichen des höchsten Lebensziels – Ding Liren fiel in ein tiefes Loch. Die psychischen Probleme, die er an der WM noch knapp hatte bewältigen können, nahmen immer grössere Ausmasse an. Ding legte eine neunmonatige Wettkampfpause ein. Depressionen suchten ihn heim, zweimal liess er sich in einer Klinik behandeln.

Im Januar dieses Jahres kehrte er in die Öffentlichkeit zurück. Er glaubte, die Freude am Schach und seine Ambitionen seien zurück, aber es wollte ihm nicht so recht laufen. Die frühere Leichtigkeit war weg, unerklärliche Konzentrationslücken traten auf. Im Traditionsturnier in Wijk aan Zee wurde er nur Neunter; mit der bescheidenen Bilanz von zwei Siegen, drei Niederlagen und acht Remis.

Der Rest der Saison lief nicht besser. Im Juni übersah er gegen Carlsen ein elementares Matt in zwei Zügen. An der Schacholympiade führte er zwar sein Land an, konnte aber nur 3,5 Punkte aus acht Partien beisteuern.

In der Zwischenzeit hat Ding in mehr als zwanzig Partien mit klassischer Bedenkzeit nicht mehr gewonnen, in der Weltrangliste ist die einstige Nummer zwei auf Rang 23 abgerutscht. Mit 2728 Elo-Punkten liegt Ding fast 90 Punkte unter seiner Höchstmarke und über 50 Punkte hinter seinem jungen Kontrahenten Gukesh zurück.

Wenn er so spiele wie in den letzten Monaten, so befürchtet es Ding selber, könnte er gegen Gukesh «schrecklich verlieren». Diese Äusserung, die bei anderen entweder psychologische Kriegsführung oder übertriebenes Understatement darstellt, ist beim Chinesen eine nüchterne Einschätzung der Lage. Aber chancenlos wird er nicht sein.

Die WM erstreckt sich über bis zu 14 Partien

Denn Ding hat viel mehr Erfahrung am Brett als sein Gegner, er kennt gerade auch den grossen Druck eines WM-Wettkampfs. Nachdem es ihm im letzten Jahr gelungen war, aus erheblicher psychologischer Rücklage den Sieg zu erzwingen, sollte es auch diesmal niemanden überraschen, wenn ihm ein Wunder gelänge.

Das Duell um den Schach-WM-Titel in Singapur erstreckt sich über bis zu 14 Partien. Gespielt wird mit einer klassischen Bedenkzeit von 2 Stunden für 40 Züge, darauf folgen eine Zugabe von 30 Minuten für den Rest der Partie sowie ein Zeitbonus von 30 Sekunden pro Zug ab Zug 41. Jeder vierte Tag ist ein Ruhetag. Sollte das Match mit einem 7:7-Gleichstand enden, wird am 13. Dezember ein Stichkampf im Schnellschach über den Sieg entscheiden müssen.

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