Christensen gehört zu den bedeutenden Autoren der nordischen Literatur. Eine Krebserkrankung öffnete ihm den Zugang zu Intimstem: zum Sterben des Vaters, zur Vergangenheit der Familie in Hongkong auch.
Nachdem Norwegens Autoren der siebziger Jahre Chinas «grossem Steuermann» Mao gehuldigt hatten, brachte Lars Saabye Christensen 1984 mit dem Pubertätsroman «Yesterday» einen neuen Sound in die Literatur. In der Folge wurde er zum Erzähler des bürgerlichen Oslo West. «Ich schreibe aus grosser Liebe zu Oslo», sagte er vor ein paar Jahren der Zeitung «Aftenposten». Mit dem Familienroman «Der Halbbruder» (2001), für den er den Preis des Nordischen Rats erhielt, rückte er in die skandinavische Meisterklasse vor.
In seinem neuen Buch «Meine chinesische Grossmutter», das keine Gattungsbezeichnung trägt, erzählt der Sohn eines Dänen und einer Norwegerin die Geschichte seiner dänischen Grosseltern, und zwar zweisprachig. Der Haupttext der Originalausgabe ist norwegisch, die zitierten oder erfundenen Quellen sind dänisch. Kapitän Jörgen Christensen trat 1901 in den Dienst der 1833 in Kopenhagen gegründeten ältesten Seerettungs- und Bergungsgesellschaft der Welt, Svitzers Bjergnings Enterprise. 1906 steuerte der Frischvermählte den Bergungsdampfer «Protector» nach Hongkong, wo er fünf Jahre als Stationschef Dienst tat. Bald folgte ihm seine junge Frau Hulda, «meine chinesische Grossmutter».
Hohe See und Sturm
«Die Tiefen des Meeres sind ein riesiger Friedhof geworden», schreibt Svitzer in einem Firmenporträt. «Dieser Kapitalverschlingung hier im Norden die Stirn zu bieten und damit ein Geschäft aufzubauen, war die Aufgabe, die ich mir stellte.» Bei hoher See und Sturm sprach man von «Geschäftswetter». «Dann lag die ‹Protector› unter Dampf, denn früher oder später würde jemand kentern, auf Grund laufen, Leck springen oder sinken.» Grossvater Jörgens Operationen sind riskant. «Jeder Abschied ist ein möglicher Tod. Bis zu seiner Rückkehr ist sie eine Witwe. Kann man sich an so etwas gewöhnen?» Christensen gibt vor, die Wirklichkeit zu erkunden, doch: «Die Dichtung verhält sich zur Wirklichkeit wie die Musik zum Instrument.»
Der mittlerweile 71-jährige Christensen erzählte einem Interviewer, den chinesischen Stoff habe er ein Schriftstellerleben lang mit sich getragen. Ebenso lang habe er nach einem Blickwinkel gesucht, der die Geschichte erzählbar machte. 2017 erkrankte er an Krebs. Er verabschiedete sich im Roman «Die Spuren der Stadt» von seiner Leserschaft. Und schrieb weiter.
Jetzt erst, das eigene Ende vor Augen, ist ihm die erzählerische Aneignung des Stoffs geglückt. In dem eigenwilligen Buch erzählt er nicht etwa von seinem eigenen Rendez-vous mit dem Tod. Nein, den Rahmen der Erzählung setzt das Sterben seines Vaters kurz nach dem Tod der Mutter. Die Krankenhausärztin gibt dem Sterbenden noch ein paar Tage. Doch der will seinen 90. Geburtstag partout zu Hause feiern, an der Gabels Gate 19 in Oslo West. Die Gästeliste umfasst Lebende und Tote.
Dass Christensen an der Gabels Gate 19 aufwuchs, weiss man, oft genug hat er die Adresse in seinen Büchern erwähnt. Doch jetzt bekennt er, das Interieur der elterlichen Wohnung habe er in seinen Romanen nie verwendet. Der «Überschuss privater Erinnerungen» hätte «die Fiktion gestört». «Ich hätte mich in Erinnerungen verloren, die nur in meiner Geschichte gültig sind.» Jeder Romanautor müsse sich «irgendwann von seinem Material lösen». Man mag das als Abgrenzung von Karl Ove Knausgards Grossroman «Mein Kampf» und der Autofiktion lesen, die vor einigen Jahren in Norwegen hoch im Kurs war.
Wie Mutter Ases Tod
Das Sterben des Vaters öffnet den Zugang zur Vergangenheit der Familie und zu Hongkong. Allerdings hadert Christensen mit der Quellenlage. Während die Viten der Männer durch Zeugnisse, Würdigungen, Orden, Interviews, Festreden und Nachrufe dokumentiert sind, fehlt von den Leben der Frauen jeder Beleg. Grossmutter Hulda hinterliess immerhin ein Rezept für Kaschmirs Fischragout. Um der Gerechtigkeit willen schreibt der Enkel dieses Buch. Entstanden ist ein hoch reflektierter Text. «Ich schreibe, um meine Grossmutter zu finden, aber sie entgleitet mir.»
Christensens permanentes Problematisieren seines Erzählens macht die Lektüre zum Erlebnis. Schliesslich reist er auf Huldas Spuren nach Hongkong. Gebannt sitzt er im Stadtmuseum vor einer filmischen Endlosschleife, die eine Strassenbahnfahrt anno 1909 zeigt – und Simsalabim steht er unter lauter Chinesen in dem überfüllten Waggon. Da naht auch schon der Schaffner, wo Christensen doch weder einen Fahrschein noch das nötige Kleingeld bei sich hat, und holt ihn in die Wirklichkeit zurück, ans Sterbebett des Vaters.
Zu guter Letzt brechen Vater und Sohn zur Geburtstagsfeier auf. Der Ausflug wird zur Ehrenrunde durch Oslo West. Die Fahrt der beiden erinnert an eine der schönsten Sterbeszenen der norwegischen Literatur, Mutter Ases Tod in Henrik Ibsens Drama «Peer Gynt». Peer nimmt der Mutter die Angst vor dem Tod: Er fabuliert, sie sässen in einem vom Pferd Grane gezogenen Schlitten auf der Reise ins himmlische Schloss. Christensens Schloss trägt die Anschrift Gabels Gate 19. Grane, ein Pferd der nordischen Mythologie, lässt sich nur von Sigurd dem Drachentöter reiten. Doch die Zeiten haben sich geändert. Am Steuer des Taxis, das Vater und Sohn befördert, sitzt ein eleganter pakistanischer Fahrer.
Lars Saabye Christensen: Meine chinesische Grossmutter. Aus dem Norwegischen und Dänischen von Hannes Langendörfer. BTB-Verlag, München 2024. 223 S., Fr. 36.90.