Am 1. Dezember beendet das Cern seine Zusammenarbeit mit Russland. Das ist ein harter Schlag für ein Friedensprojekt, das selbst den Kalten Krieg überdauert hat.
Das Cern in Genf ist ein Aushängeschild internationaler Forschung. Vor 70 Jahren gegründet, ist die Europäische Organisation für Kernforschung ein Fixpunkt für mehr als zehntausend Wissenschafter aus aller Welt. Indem sie Teilchen mit grosser Wucht aufeinanderschiessen, versuchen sie die faustische Frage zu beantworten, was die Welt im Innersten zusammenhält.
Goethes Faust schliesst einen Pakt mit dem Teufel, um seinen Wissensdurst zu stillen. In Genf hat man einen anderen Weg gewählt, um grundlegende Erkenntnisse über die Natur zu gewinnen. Das Cern ist nach dem Zweiten Weltkrieg als Friedensprojekt entstanden. Seine Gründer hatten die Vision, dass wissenschaftliche Zusammenarbeit dabei helfen könne, politische Differenzen zu überwinden. «Wissenschaft für Frieden», lautete das Motto. Und dieser Geist der Offenheit und des friedlichen Miteinanders überdauerte selbst den Kalten Krieg. Darauf ist man am Cern zu Recht stolz.
Doch ausgerechnet im Jahr des 70-Jahr-Jubiläums wirft das Cern seine geheiligten Prinzipien über Bord. Ende November stellt das Forschungszentrum als Antwort auf den Ukraine-Krieg die Kooperation mit Russland ein. Rund 500 Wissenschafter, die mit russischen Institutionen verbunden sind, müssen das Cern verlassen. Für Wissenschafter aus Weissrussland gilt der Bann bereits seit Ende Juni.
Die Politik setzt sich über die Wissenschaft hinweg
Der Beschluss, die Zusammenarbeit mit Russland und Weissrussland zu sistieren, wurde vom Cern-Rat getroffen, dem obersten Entscheidungsgremium. Es handelt sich um einen politisch motivierten Beschluss, der das Cern in seinem Selbstverständnis trifft. Das Image, über der Politik zu stehen, hat einen empfindlichen Kratzer abbekommen. Entsprechend heftig ist der Widerstand, der aus Teilen der Cern-Community kommt.
Alle sind sich einig, dass der Einmarsch Russlands in die Ukraine zu verdammen sei. Aber bei der Frage, wie sinnvoll Sanktionen in der Wissenschaft sind, gehen die Ansichten auseinander. Nicht wenige Forscher argumentieren, sie seien kontraproduktiv und schadeten der Wissenschaft mehr als dem Aggressor, in diesem Fall also der russischen Regierung.
Solche Stimmen fanden bei der Entscheidung des Cern-Rats wenig Gehör. Laut einer Recherche des Online-Magazins «The Geneva Observer» fanden die massgeblichen Diskussionen auf Regierungs- und Ministerialebene statt. Offenbar wollte eine Mehrheit der 24 europäischen Mitgliedsländer des Cern ein politisches Zeichen setzen, dass das Verhalten Russlands nicht hinnehmbar ist und Konsequenzen haben muss.
Sanktionen mit Schlupflöchern
Der Ausschluss Russlands vom Cern fügt sich in eine lange Liste von Sanktionen ein, die seit dem Ausbruch des Krieges gegen russische Oligarchen, Finanzinstitute und andere Institutionen erlassen wurden. Und wie bei allen Sanktionen gibt es auch hier Schlupflöcher – mit dem Unterschied, dass diese durchaus gewollt sind.
So richtet sich der Boykott nicht gegen russische Wissenschafter, sondern gegen russische Institutionen. Wer eine Anstellung bei einer nichtrussischen Forschungseinrichtung findet, kann weiterhin am Cern forschen. Damit kommt man russischen Wissenschaftern entgegen, die öffentlich Kritik am Einmarsch geübt haben. Es wäre unverantwortlich, sie in die Arme Putins zu treiben. Gleichzeitig erlaubt es diese Regelung, russische Forscher am Cern zu halten, die für den Forschungsbetrieb essenziell sind.
Fortgesetzt wird auch die Zusammenarbeit mit dem Joint Institute for Nuclear Research (JINR). Dieses Forschungszentrum mit Sitz in Dubna wurde im Kalten Krieg als sozialistisches Gegenprojekt zum Cern gegründet. Es steht im Ruf, gute Beziehungen zum russischen Staat zu haben, der auch einen grossen Teil des Budgets trägt.
Das spricht eigentlich gegen eine Kooperation. Dass das Cern trotzdem an ihr festhält, hat gute Gründe. Zum einen ist das JINR eine internationale Institution, der ebenfalls andere Länder angehören. Sie für die russische Aggression zu strafen, wäre eine harte Massnahme. Zum anderen hat sich die Beziehung zwischen dem Cern und dem JINR in Krisen bewährt. Sie brach auch während der Hochzeiten des Kalten Krieges nie ganz ab. Dass man diesen Gesprächsfaden jetzt nicht abreissen lässt, ist zu begrüssen. Es hält die Hoffnung am Leben, eines Tages wieder daran anknüpfen zu können.
Diese Schlupflöcher zeigen, dass der Cern-Rat nicht die maximal mögliche Konfrontation mit Russland gesucht hat. Das sollten auch Wissenschafter anerkennen, die den Sanktionen kritisch gegenüberstehen.
Warum treffen die Sanktionen das Cern und nicht Iter?
Trotzdem bleibt die Frage, warum die europäischen Regierungen ausgerechnet ein Friedensprojekt wie das Cern ausgewählt haben, um ein politisches Exempel zu statuieren. Es hätte naheliegendere Sanktionen im Wissenschaftsbereich gegeben, die Russland mehr geschadet hätten.
So hat die ESA zwar ihre Zusammenarbeit mit der russischen Weltraumorganisation Roskosmos eingeschränkt. Auf der Internationalen Raumstation arbeiten russische, amerikanische, japanische und europäische Astronauten aber nach wie vor zusammen. Und auch bei einem anderen internationalen Prestigeprojekt, dem Bau des Kernfusionsreaktors Iter, ist Russland immer noch ein vollwertiger Partner und Beitragszahler. Dabei haben die Raumfahrt und die Fusionsforschung eine viel grössere geopolitische Bedeutung als die «unpolitische» Elementarteilchenphysik. Hier den Anschluss an die Weltspitze zu verlieren, würde Russland viel härter treffen.
Die banale Wahrheit ist, dass die europäischen Regierungen bei den Sanktionen nicht nur an den russischen, sondern auch an den eigenen Schaden gedacht haben. Russland steuert jährlich nur gut zwei Millionen Franken zu den Experimenten am Cern bei. Das entspricht einem Anteil von 4,5 Prozent, den nun andere Länder tragen müssen. Für die 40 Millionen Franken, die Russland in den nächsten Jahren zum Upgrade des Large Hadron Colliders beigesteuert hätte, wird sich eine andere Lösung finden lassen.
Auch rechtliche Überlegungen haben vermutlich eine Rolle gespielt. Russland ist kein vollwertiges Cern-Mitglied. Es ist noch nicht einmal ein assoziiertes Mitglied wie die Ukraine. Russland ist durch ein internationales Kooperationsabkommen mit dem Cern verbunden, das im November 2024 ausläuft. Der Cern-Rat musste also keine internationalen Verträge brechen. Es genügte, das Kooperationsabkommen nicht zu verlängern.
Kurzum: Das Ende der Kooperation mit Russland mag vorübergehend ein Loch in das Cern-Budget reissen. Er stürzt das europäische Forschungszentrum aber nicht in eine existenzielle Krise. Das wäre ganz anders gewesen, wenn man Russland vom Iter-Projekt ausgeschlossen hätte. Als Mitgliedsland trägt Russland 9 Prozent der geschätzten Kosten von 20 Milliarden Euro. Wenn nur eines der Mitgliedsländer abspringt, ist das Iter-Projekt am Ende. Dann könnten die anderen Partner, allen voran die EU, ihre erheblichen Investitionen abschreiben.
Ähnlich sieht es bei der Internationalen Raumstation aus. Alle Partner wissen, dass die ISS nur gemeinsam betrieben werden kann. Der russische Teil kann schon deshalb nicht abgekoppelt werden, weil er Funktionen für die ISS als Ganzes erfüllt. Solche Sachzwänge fallen bei Politikern stärker ins Gewicht als die idealistische Wunschvorstellung, durch die Wissenschaft die Spaltung der Welt zu überwinden.
Russland sucht den Schulterschluss mit China
Das Ziel der Sanktionen besteht darin, Russland wissenschaftlich und technologisch zu isolieren. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass die Sanktionen Russland in die Arme Chinas treiben. Im Bereich der Raumfahrt ist das bereits zu beobachten. So sucht Moskau bei der Erkundung des Mondes immer mehr den Schulterschluss mit Peking.
Das Gleiche könnte auch in der Teilchenphysik geschehen. Nicht nur am Cern werden derzeit Pläne für den nächsten Teilchenbeschleuniger gewälzt. China hat ebenfalls Ambitionen, einen Beschleuniger zu bauen, der noch leistungsfähiger ist als der Large Hadron Collider am Cern. Eine russische Beteiligung käme Peking vermutlich sehr gelegen.
Langfristig könnte diese Polarisierung dem Cern schaden. Trotzdem wäre Nichtstun keine Option gewesen. Wer wie Russland die Waffen sprechen lässt, darf bei einem Friedensprojekt nicht mehr willkommen sein. Viele Wissenschafter tun sich schwer damit, diese bittere Pille zu schlucken. Der Kalte Krieg hat sie davon überzeugt, dass die vereinende Kraft der Wissenschaft stärker sein kann als das Trennende. Im heissen Krieg entpuppt sich das nun als Illusion.