Die ehemalige deutsche Bundeskanzlerin war in der Politik eine doppelte Aussenseiterin: Frau und Ostdeutsche. Über beides hat sie kaum gesprochen. Eine ARD-Dokumentation zeigt ihre «Schicksalsjahre».
«Sie kennen mich» – den Satz von Angela Merkel kennt jeder in Deutschland. Erstmals erklärte sich die Kanzlerin auf diese Weise in ihrem dritten Bundestagswahlkampf 2013 im TV-Duell gegen Peer Steinbrück. «Sie kennen mich» ist die Überschrift für 16 Jahre Regierungszeit und umreisst die Wechselbeziehung zwischen den Deutschen und ihrer Kanzlerin, die da lautet: Wir wählen sie, und sie schaut im Gegenzug dafür, dass alles so bleibt, wie es ist. «Sie kennen mich» ist der Ursatz der Kanzlerschaft Merkel, der besagt, wie gut eingetopft die erste deutsche Bundeskanzlerin grundsätzlich war in jener solide-deutschen, jede Veränderungslust im Keim erstickenden Zimmerpflanzenerde.
Am 17. Juli feiert Angela Merkel ihren 70. Geburtstag, und aus diesem Anlass zeigt die ARD eine Filmdokumentation über Deutschlands erste Kanzlerin. Zum Auftakt ertönt der Satz «Sie kennen mich» aus dem Off. Die Frage, wer Angela Merkel ist, beantwortet diese Geburtstagssause entsprechend: In Geschenkpapier wickelt man keine bösen Wahrheiten, sondern allenfalls ironische Akzente. Wenngleich Aussagen wie «Kein Mensch kennt Angela Merkel» (der Podcasterin Samira El Ouassil) oder «Sie ist ein Rätsel» (der Journalistin und Merkel-Biografin Judy Dempsey) hier nicht wirklich ablenken von der Tatsache, dass natürlich jeder Angela Merkel kennt.
Die «Sissi»-Haftigkeit des Titels «Angela Merkel – Schicksalsjahre einer Kanzlerin» irritiert, denn Angela Merkels Aufstieg zur mächtigsten Frau der Welt kann man mit allem Möglichen assoziieren, schicksalshaft war er aber nicht. Als Ankündigung eines Feel-good-Movies, in dem die Merkel zugeneigte Fraktion zu Wort kommt wie unter anderen ihre Biografin Evelyn Roll oder der Publizist Christoph Dieckmann, muss man es wahrscheinlich lesen. Vermutlich erwartet aber ohnehin niemand von einem öffentlichrechtlichen Sender, dass er seine affirmative Unterstützung während Merkels Amtszeit nun im Nachgang plötzlich auf den Kopf stellt.
Die Geschichte von öffentlichem Druck und internen Machtkämpfen ist wohldosiert erzählt. So redet die männliche CDU-Konkurrenz, die von Merkel nachhaltig deklassiert wurde, um den heissen Brei herum (wie Roland Koch). Kritiker wie der Historiker Andreas Rödder oder der ehemalige «Bild»-Chef und Kohl-Berater Hans-Hermann Tiedje fehlen. Nun ist Angela Merkels Abtritt erst zweieinhalb Jahre her. Die Debatte über die historische Einordnung dürfte im November Fahrt aufnehmen, wenn Merkel ihre Autobiografie veröffentlicht.
Politisches Temperament
Der Journalist und Regisseur Tim Evers richtet in seinem Film erst gegen Ende einen kritischen Blick auf Merkel, wenn es um ihr Festhalten an Nord Stream 2 geht, obwohl der Bundeskanzlerin damals klar war, dass die Vergiftung Nawalnys vom russischen Geheimdienst zu verantworten war und damit von Putin. Allenfalls Marina Weisband formuliert es deutlich: Das von Merkel immer als Erfolg propagierte «Friedensabkommen» von Minsk 2015, so die Grünen-Politikerin ukrainisch-deutscher Herkunft, sei das Schlüsselereignis gewesen, mit dem der Westen Putin sehenden Auges Tür und Tor geöffnet habe für dessen Expansionsoffensive gegen die Ukraine.
Auf der anderen Seite des Spektrums steht Merkels damaliger Innenminister Thomas de Maizière, der Geschichtsklitterung betreibt, wenn er Merkels Entscheidung von 2015, angesichts des Flüchtlingsansturms die Grenzen offen zu halten, mit ihrer DDR-Herkunft begründet: «Sie wollte nicht die ostdeutsche Kanzlerin sein, die Grenzen schliesst», sagt er und setzt damit syrische Flüchtlinge mit ostdeutschen Bürgern gleich. Auf solch realitätsferne Arabesken fällt diesem Film kein Widerspruch ein. Dabei stellt sich die Frage, was passiert wäre, wenn Merkel zum damaligen österreichischen Bundeskanzler Faymann und zu Orban gesagt hätte: Lasst sie nicht nach Österreich. Merkel hätte Flüchtlinge, die bereits durch zwei EU-Länder gezogen waren, nicht in Deutschland aufnehmen müssen.
Obwohl dieser Film selbst in der zweieinhalbstündigen Langversion keine politische Tiefenbohrung liefert, ist er kurzweilig und aufschlussreich. Das hat mit dem politischen Temperament Merkels zu tun, die trotz zweifachem Handicap (eine Frau mit ostdeutscher Herkunft) nicht aufzuhalten war, die sich als Dienerin an ihrem Land verstand und keine Skandale verursachte. In chronologischem Aufbau, anhand von Original-Bildmaterial und Aussagen von Beobachtern und Wegbegleitern werden Merkels DDR-Vergangenheit, ihr Aufstieg innerhalb der CDU sowie als Kanzlerin nachgezeichnet: eine «Hochgeschwindigkeitskarriere», so Evelyn Roll. Merkel, eine Mischung aus Naturtalent und Strategin, durchschaute das System und startete durch.
Der Film lässt Merkels Weg Revue passieren, entlang der wichtigsten Zäsuren in ihrer Amtszeit von Atomausstieg/Energiewende über die Euro-Krise hin zur Flüchtlingspolitik. In alldem zeigt sich, wie Angela Merkel immer sehr stark auf die Reize der Wählerschaft reagiert hat – aus Vorsicht, Pragmatismus, aus Machtgier, wie auch immer.
Nachdem sie in ihrem ersten Wahlkampf 2005 Steuerreform und Kopfprämie im Gepäck gehabt und damit um ein Haar gegen Gerhard Schröder verloren hatte, wusste sie: Die Deutschen wollen keine Reformen. Schröders Agenda 2010 war Strapaze genug gewesen, basta! Also warf seine Nachfolgerin nach der Wahl ihr relativ liberales Programm kurzerhand über Bord und hüllte sich mit farblich wechselnden Blazern in jenen «Sie kennen mich»-Habitus, der unideologische Glaubwürdigkeit ventilierte und die linksliberale Mitte der Wählerschaft scharf im Auge behielt.
Es war die erste Lektion, die Angela Merkel als frisch gekürte Kanzlerin verinnerlichte: In Deutschland gefährden weitreichende politische Konzepte wie Reformvorhaben den politischen Erfolg. Macht sichert man sich im Angebot persönlicher Vertrauenswürdigkeit, und sei es auch noch so diffus. Wo ein Mann wie Adenauer selbstverständlich sagen konnte: «Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern?», hiess das bei Angela Merkel: «Sie kennen mich.» Merkels cleverer Opportunismus führte zu den bekannten abrupten Gesinnungswechseln. So kassierte sie bei ihrer Amtsübernahme 2005 den Atomausstieg der rot-grünen Vorgängerregierung, um ihn 2011 nach Fukushima wieder in Kraft zu setzen.
«Die Eiskönigin»
Beim Thema Flüchtlingspolitik zeigt sich deutlich die Schwäche dieser filmischen Darstellung, die das wichtige Material zusammenträgt, aber die Argumente nicht liefert. Denn Merkels volatile Entscheidungen sind auch eine Folge des deutschen Zeitgeists. So hatte sie 2015 dem palästinensischen Flüchtlingsmädchen Reem in einer TV-Sendung noch die «harte» politische Realität erklärt, machte das richtig gut, als sie sagte: «Das können wir auch nicht schaffen, dass alle kommen.» Was folgte, war der grösste Shitstorm gegen «Die Eiskönigin» («Stern»).
Die Deutschen sahen erstmals seit dem Krieg die Gelegenheit, sich der Welt als die Geläuterten zu präsentieren, warteten mit Teddybären am Münchner Bahnhof auf die Migranten und wollten sich dabei nicht von ihrer Kanzlerin aufhalten lassen. Sechs Wochen später dampfte diese ihre Aussage ein in die drei berühmten Worte: «Wir schaffen das.» Der ARD-Film unterschlägt diese Wendung. Es wird interessant sein, wie Merkel diese Kehrtwende in ihrer Autobiografie darstellt.
Wahr ist, dass Merkel schon 1991 im berühmten Gespräch mit Günter Gaus über sich sagte, dass «Widerspruchsgeist» nicht eine ihrer «vorwiegenden Eigenschaften» sei, Anpassung hielt sie «für eine ziemliche Lebensnotwendigkeit». Dass sie sich mehr Widerspruchsgeist zulegen wollte, weil sie ihn in der Politik für relevant erachtete, diesen Zusatz unterschlägt man hier. Sei Merkel am Anfang ihrer Kanzlerschaft auch mal unterhaltsam und lustig gewesen, so habe sie am Ende bei jeder Aussage überlegt: «Kann mir das schaden?», bilanziert Evelyn Roll.
Im Gegensatz zur sehenswerten Netflix-Dokumentation «Merkel – Macht der Freiheit» (2022), die Pathos und Lust an der Politik atmet, will Evers nicht loskommen von Merkels zweifelhaftem Ruf einer «Meisterin des Pragmatismus», die sich aus Vorsicht und Machtinstinkt nie festlegte. Ihre Kehrtwenden führten zur harten Kritik an ihrer Kanzlerschaft: Energiepolitik, Migrationspolitik – alles war Treibsand. Selbst bei der Euro-Rettung könnte man sagen, dass sie das Ergebnis erfolgreichen Nichthandelns war, weil Merkel dafür einstand, Griechenland nicht aus der Euro-Zone hinauszuwerfen.
Adenauer war der Kanzler der Gründung der Bundesrepublik, Erhard der Kanzler des Wirtschaftswunders, Brandt der Mann der Ostpolitik, Schmidt sorgte für die Nato-Nachrüstung, Kohl war der Wiedervereinigungs-Kanzler, von Schröder bleibt die Agenda 2010. Und Merkel?
Roger Willemsen bezeichnete Angela Merkel wegen ihrer «sehr geringen Reibungsfähigkeit» und ihres «hohen Konsensanteils» einmal als «die Helene Fischer der Politik». Machismen sind nicht das zentrale Thema der Dokumentation, aber sie liefern den unablässigen Begleitsound in dieser Geschichte über eine Frau an der Macht. So juchzt der DDR-Bürgerrechtler Rainer Eppelmann heute noch beglückt: «Sie war meine Pressesprecherin.» Helmuth Kohl nannte sie «mein Mädchen», und Norbert Blüm umarmte sie distanzlos vor laufender Kamera.
Im Zweifelsfall war Merkel zu wenig weiblich, zu schnippisch, zu fröhlich, zu ernsthaft, zu humorlos. Als im Februar 2000 die damalige CDU-Generalsekretärin in einer Schlüsselposition für den Parteivorsitz war, scheute sich Edmund Stoiber nicht, in der Talkshow «Beckmann» («Ich sehe so was nicht») seine Töchter vorzuschieben, die fänden, Merkel «könnt’ mehr aus sich machen». Man kann es sich heute nicht mehr ausdenken.
Wenn Habeck gratuliert
Oder doch: Gerade hat Robert Habeck fürs Magazin «Rolling Stone» eine Geburtstagsrede gedichtet. Eine Mischung aus Ballade, die Merkel – Anschie! – als die «Retterin der CDU» vor dem «rechten Populismus» besingt, und heiserem Softrock – A-ha-nschie! –, der beklagt, dass «die Ampel so unbeliebt» sei vor allem deshalb, weil Merkel jede Zumutung an die Bürger tunlichst vermieden habe.
Neben der Aufpolierung seines Images macht sich auch der Wirtschaftsminister Gedanken über Merkels «so schlichten wie genialen» Ausspruch «Sie kennen mich» und lässt seiner Phantasie freien Lauf: «Merkel konnte man sich beim Kuchenbacken oder Kartoffelschälen oder beim ‹Tatort›-Gucken vorstellen.» Kuchen backen, Kartoffeln schälen, «Tatort» gucken? Dass er ein paar Zeilen später Merkels «Sieg über den Chauvinismus» angesichts der «männlichen Parteigranden» hervorhebt, mutet in diesem Kontext wie ein schlechter Witz an.
Unschwer zu verstehen, dass Merkel als zweifache Aussenseiterin kaum je weder über ihr Frausein noch über ihre Ost-Herkunft gesprochen hat. Der Gedanke drängt sich auf, dass sie just mit diesen beiden Eigenschaften, auf die sie am wenigsten Wert legte, die nachhaltigste Wirkung erzeugte. Frauen an der Macht sind heute viel selbstverständlicher als zu Merkels Anfängen und ihr Anteil an diesem Umstand viel grösser, als ihr zugestanden wird. Dank an Herrn Habeck aber auch, dass er uns darauf nochmals hinweist.
«Angela Merkel. Schicksalsjahre einer Kanzlerin», 90-minütige Doku, am Montag, 15. Juli, um 22.30 Uhr in der ARD.