Genetisch gesehen sind manche Personen Männer. Aber sie besitzen Gendefekte, so dass ihre Geschlechtsentwicklung schon im Mutterleib gestört ist. Dürfen sie deshalb bei den Frauen starten?
Der Fall der algerischen Boxerin Imane Khelif sorgt an den Olympischen Spielen in Paris für heisse Köpfe und hitzige Debatten. Ihre Gegnerin Angela Carini gab am Donnerstag bereits nach 46 Sekunden auf: Der Schlag auf ihre Nase sei so hart gewesen, dass sie noch nie gekannte Schmerzen erlebt habe und ihre Gesundheit habe schützen müssen, erklärte sie. Laut dem Internationalen Boxverband IBA soll Khelif genetisch gesehen ein Mann sein, also die Geschlechtschromosomen X und Y besitzen. Und zudem weise sie einen erhöhten Testosteronspiegel auf – wie ein Mann. Doch sie gilt gemäss ihrem Pass und nach eigener Aussage als Frau.
Sollten diese Aussagen stimmen, wäre Khelif biologisch gesehen ein Fall einer sogenannten gestörten Geschlechtsentwicklung, kurz auch DSD genannt. Das wird auch als Intersexualität bezeichnet. Schätzungsweise 1,7 Prozent der Bevölkerung kommt mit einer DSD zur Welt.
Es existieren unterschiedliche Varianten davon. Es gibt Menschen, die haben Abweichungen bei den Geschlechtschromosomen. Andere haben die ganz normale Verteilung, also ein X und ein Y beziehungsweise zwei X, aber trotzdem entwickeln sie sich nicht wie Männer beziehungsweise Frauen. Denn sie weisen in manchen Genen Veränderungen (Mutationen) auf, so dass es nicht zu einer normalen männlichen oder weiblichen Entwicklung kommt. Das betrifft in der Regel die primären Geschlechtsmerkmale, aber auch andere körperliche Charakteristika.
Es fehlen Penis und Hoden
Die Läuferin Caster Semenya ist ein prominentes Beispiel für so eine gestörte Geschlechtsentwicklung. Ihr Fall mit Olympiasiegen und Sperren zeigte exemplarisch auf, welche Probleme eine DSD im Hochleistungssport verursachen kann.
Semenya besitzt nämlich die Chromosomen X und Y, ist also biologisch ein Mann. Doch zugleich hat Semenya einen genetischen Defekt in einem Enzym namens 5-ARD. Dies führt dazu, dass der Körper zwar Testosteron produziert. Doch dieses wird nicht in das viel wirksamere Dihydrotestosteron (DHT) umgewandelt.
Bei den von diesem Defekt Betroffenen ist die Geschlechtsentwicklung im Mutterleib gestört. Sie bilden meist keinen Penis aus, oftmals bleiben winzige Hoden unsichtbar im Körper. Menschen mit dem genannten Enzymdefekt werden somit trotz ihren XY-Chromosomen bei der Geburt als Mädchen eingestuft.
Der Testosteronwert im Blut ist erhöht
Doch während der Pubertät kommt es bei den Betroffenen zu einer vom Gehirn gesteuerten massiven Testosteronausschüttung – eben wie bei Männern. Folgerichtig entwickeln sie dann mehr Muskeln, oftmals werden auch ihre Gesichtszüge männlicher. In manchen Fällen wandern kleine Hoden ausserhalb des Körpers.
Die Personen haben nun einen deutlich höheren Testosteronspiegel als gesunde Frauen. Es kann sein, dass sie sich nach wie vor wie eine Frau fühlen, vor allem dann, wenn sie keine männlichen Geschlechtsmerkmale, keinen Bartwuchs und keine besonders tiefe Stimme bekommen.
Experten gehen davon aus, dass der Enzymdefekt individuell unterschiedlich ausgeprägt ist. Es kann zu einem totalen oder nur teilweisen Ausfall kommen. Auch die Testosteron-Blutwerte sind unterschiedlich: sie können doppelt so hoch sein wie jene von Frauen (deren Normwerte betragen 0,12 bis 0,6 Nanogramm pro Milliliter) oder jene von Männern erreichen (normal sind 3,5 bis 11,5 Nanogramm pro Milliliter).
Auswirkungen auf die Leistung sind unklar
Es ist derzeit unklar, ob und wie viel höher die Leistungsfähigkeit von solchen Personen mit 5-ARD-Enzymdefekt ist im Vergleich zu Frauen. Da ja Testosteron eingebettet in ein Netzwerk aus anderen Hormonen und Faktoren wirkt, ist es laut Hormonspezialisten schwierig abzuschätzen, wie sich das auswirkt, wenn ein Glied in der Kette reisst. Zudem ist kaum erforscht, wie der Körper auf den Testosteronschub in der Pubertät reagiert, wenn von Beginn des Lebens an die Geschlechtsentwicklung nicht ganz normal ist.
Es ist allerdings gut möglich, dass die Leistungsfähigkeit von Personen mit dem 5-ARD-Defekt höher ist als jene von Frauen. Darauf lassen auch die Erfolge von Semenya und anderen Sportlern schliessen. Gerade im Spitzensport können schon wenige Prozent mehr Leistungsfähigkeit darüber entscheiden, welche von zwei voll durchtrainierten Personen gewinnt.
Wie wichtig bereits wenige Prozent mehr Leistungsfähigkeit sein können, hat sich zum Beispiel während der Corona-Pandemie bei erkrankten Profifussballern gezeigt. Obwohl sie nach ihrer Infektion gemäss sämtlichen Tests nur fünf Prozent weniger fit waren, brachten sie auf dem Platz für alle Fans sichtbar zumindest einige Wochen lang nicht mehr die gewohnte Topleistung.
Testosteron verschafft mehr als nur dicke Muskeln
Ein erhöhter Testosteronspiegel hilft Sportlern gleich mehrfach. Zum einen werden dadurch neue Muskelfasern aufgebaut. Auch die Produktion von neuen Blutzellen wird angeregt, so dass das Blut mehr Sauerstoff aufnehmen kann. Zugleich wird die Bildung von Fettgewebe reduziert oder gar weitgehend unterdrückt. Somit hilft Testosteron vor allem Athletinnen und Athleten, die für ihre Disziplin Muskeln und Schnelligkeit benötigen, aber auch eine gewisse Ausdauer.
Das macht Testosteron oder Abkömmlinge davon zum Dopingmittel. Heutzutage werden teilweise nur geringe Mengen eingenommen. Gerade Frauen wollen gar nicht die hohen Werte von Männern erreichen, das wäre auch optisch schon zu auffällig.
Es ist allerdings zum jetzigen Zeitpunkt nicht klar, ob die algerische Boxerin Khelif dieselben biologischen Besonderheiten aufweist wie Semenya, also die Chromosomen X und Y und zudem den besagten 5-ARD-Enzymdefekt.
Denkbar ist auch, dass Khelif zwar genetisch gesehen ein Mann ist, zusätzlich aber ein anderes Gen verändert ist. Es gibt auch genetische Veränderungen in der Andockstation für Testosteron. Dadurch wird diese komplett oder nahezu unempfindlich. Der Körper spürt also gar nicht oder nur stark eingeschränkt, dass im Blut Testosteron vorhanden ist. Davon Betroffene entwickeln daher meist ebenfalls keine männlichen Geschlechtsmerkmale und werden entsprechend oft bei der Geburt als Mädchen eingestuft.
Auch sie haben im Vergleich zu gesunden Frauen einen ungewöhnlich hohen Testosteronwert. Denn die Produktion dieses Männerhormons ist nicht blockiert, allerdings manchmal gemindert. Sportlich gesehen, profitieren diese Personen allenfalls nur sehr eingeschränkt von ihrem Testosteron. Daher ist nicht zu erwarten, dass ihre Leistungsfähigkeit merklich gesteigert ist.