In der Schweiz meiden Menschen das Gespräch über den Lohn, obwohl er tief in unser Selbstbild eingreift. Auch Ökonomen tun sich schwer damit, dieses Kernelement unserer Wirtschaft zu erfassen.
Über Geld spricht man nicht – schon gar nicht über den Lohn. Viele Leute sind eher bereit, intime Details ihres Liebeslebens offenzulegen als den Lohnausweis. Dies gilt insbesondere in der Schweiz, wo es seit je zum guten Ton gehört, über das Gehalt zu schweigen. Das mag kulturelle Gründe haben, zumal finanzielle Diskretion hierzulande einen hohen Stellenwert hat. Tatsache bleibt: Auf der Liste tabuisierter Themen kommt nach Tod, Gewalt und Krankheit bald einmal der Lohn.
Man ist, was man verdient
Denn das Gehalt ist mehr als nur eine Zahl auf dem monatlichen Kontoauszug. Er ist auch eine Quelle der Selbstachtung. Eine Forschergruppe um Wiebke Bleidorn von der Universität Zürich hat im vergangenen Jahr in einer repräsentativen Studie nachgewiesen, dass ein Anstieg des Einkommens ein besseres Selbstwertgefühl nach sich zieht. Denn das Einkommen gilt auch als Marker für den sozialen Status. Das stimmt für Männer, Frauen, Junge, Alte, Akademiker und Handwerker gleichermassen. Man ist ein Stück weit das, was man verdient.
Es funktioniert aber auch umgekehrt. Ein hohes Selbstwertgefühl ist also nicht nur Folge, sondern manchmal auch Ursache eines wachsenden Einkommens. Wer ein ausgeprägtes Ego hat, setzt seine Lohnforderung eher durch als jemand, der voller Selbstzweifel ist. Das beginnt schon damit, dass man sich mehr zutraut. Wer selbstbewusst ist, ergreift Karrierechancen, die zu mehr Lohn führen. Unsichere Zeitgenossen verpassen hingegen solche Chancen, weil sie – oft ohne objektiven Grund – glauben, für den besser bezahlten Job nicht geeignet zu sein.
Doch wie kommen Löhne zustande? «Aus Sicht eines Unternehmens ist entscheidend, wie viel Wertschöpfung ein Angestellter in seiner Arbeitszeit bei der Herstellung von Gütern und Dienstleistungen erbringen kann», sagt Michael Siegenthaler. Er ist Arbeitsökonom bei der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich (KOF) und erklärt: «Firmen beschäftigen Angestellte ja nicht aus Freude, sondern um ein Produkt oder eine Dienstleistung zu verkaufen. Und der Mehrwert, den der Arbeitnehmer zum Verkauf beisteuert, bestimmt massgeblich den Lohn.»
Software und Tagesmenu
Ökonomen bezeichnen diese Wertschöpfung als Grenzprodukt. Gemeint ist jener Beitrag, den ein Arbeitnehmer zum Unternehmenserfolg beiträgt. Dabei gibt es je nach Branche grosse Unterschiede: Ein Informatiker, der dafür verantwortlich ist, dass eine neue Software auf den Markt kommt, erwirtschaftet einen höheren Mehrwert als ein Kellner, der einem Gast ein Tagesmenu serviert. Entsprechend ist der Schweizer Medianlohn im IT-Bereich mit 9400 Franken mehr als doppelt so hoch wie im Gastgewerbe (4600 Franken).
Mit persönlicher Mühsal haben diese Lohnunterschiede meist wenig zu tun. Einen Tag lang in einem Restaurant auf den Beinen zu stehen, dürfte ermüdender sein als das Programmieren auf einem ergonomischen Bürostuhl. Weshalb der Lohn im IT-Sektor dennoch höher liegt, versucht die Humankapitaltheorie zu erklären. Sie stellt anstelle der Firma den Arbeitnehmer ins Zentrum und postuliert: Mehr Investitionen in Ausbildung und Qualifikation führen zu höherer Arbeitsproduktivität, was sich letztlich in höheren Löhnen niederschlägt.
Doch eine gute Ausbildung ist zwar wichtig, aber nicht ausreichend für einen guten Lohn. Wer in der Raumfahrttechnologie eine Fertigkeit erlernt hat, die ausschliesslich bei der Nasa anwendbar ist, hat schlechte Karten. Eine solche Fachkraft kann im Lohngespräch bei der Nasa nicht glaubwürdig mit dem Wegzug zu einer anderen Firma drohen. «Die Bezahlung hängt auch davon ab, dass die eigenen Fertigkeiten von vielen Unternehmen nachgefragt werden», sagt Siegenthaler. Wichtig sei daher auch die Mobilität, also die Bereitschaft, für einen Job den Wohnort zu wechseln.
Leistung ist kaum messbar
Dass ein Arbeitgeber einem Angestellten so viel bezahlt, wie dieser an Mehrwert liefert, klingt plausibel. Einleuchtend ist auch, dass jemand dank besserer Ausbildung mehr Wert schaffen kann und deshalb besser verdient. Die Wirklichkeit ist jedoch weitaus komplexer als diese «neoklassischen» Modelle, die davon ausgehen, dass am Arbeitsmarkt das Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage durch die Lohnhöhe hergestellt wird. Denn in der realen Welt fehlen oft die Informationen zur Berechnung des markträumenden und somit «richtigen» Gehalts.
Das beginnt schon bei der Messung des Werts einer Arbeitskraft. «Wissenschaftlich lässt sich zeigen, dass Leistungsbeurteilungen extrem fehlerbehaftet und verzerrt sind», sagt Antoinette Weibel, Professorin für Personalmanagement an der Universität St. Gallen. Sie erklärt: «Abgesehen von Fliessbandarbeit, wo die Produktivität einfach messbar ist, lässt sich Leistung kaum quantifizieren.» Denn zur Leistung gehöre ja nicht nur die Mitwirkung am Gewinn, sondern zum Beispiel auch Hilfsbereitschaft, Kreativität oder die Fähigkeit, unbequeme Fragen zu stellen.
«Wir sollten anerkennen, dass Meritokratie nur ein Ideal ist und unsere Lohnsysteme weit vom Ideal einer leistungsgerechten Entlöhnung entfernt sind», folgert Weibel. Das gelte insbesondere für Spitzenlöhne von Konzernchefs. Diese könne man kaum mit Verweis auf Marktkräfte erklären oder mit dem Argument, dass nur sehr hohe Löhne die besten Talente anzögen. «Rund 70 Prozent der CEO werden intern auf den Chefsessel befördert. Der angebliche Markt ist hier also nicht besonders lebendig, sondern überschaubar klein», sagt Weibel.
Mehr Gewinn dank mehr Lohn
Oft profitieren aber auch Normalverdiener von Löhnen, die über dem Marktlohn liegen. Die Erklärung dafür liefert die Effizienzlohntheorie. Sie besagt, dass es für Unternehmen sinnvoll sein kann, mehr zu zahlen als jenen Lohn, bei dem Angebot und Nachfrage ausgeglichen sind. Denn ein besserer Lohn steigert die Motivation der Arbeiter und führt zu höherer Produktivität. Hier wird die Kausalität also umgekehrt: So bestimmt nicht länger die Leistung des Arbeitnehmers seinen Lohn, sondern der Lohn bestimmt die Produktivität des Arbeitnehmers.
Als Beispiel für diese Beobachtung wird oft auf Henry Ford verwiesen. Der amerikanische Autohersteller verdoppelte 1914 überraschend den Tageslohn seiner Angestellten auf 5 Dollar, was weit über dem Durchschnittslohn von 2 bis 3 Dollar lag. Die Folge: Die Angestellten arbeiteten härter, weil sie bei einer Entlassung an anderer Stelle viel weniger verdient hätten. Der Output stieg, der Krankenstand sank, die Gewinne sprudelten. Oder um es mit Henry Ford zu sagen: «Gute Löhne zu zahlen, ist keine Wohltätigkeit, es ist das beste Geschäft.»
Die Episode zeigt: Den Lohn als flexibles Ergebnis von Angebot und Nachfrage zu sehen, greift zu kurz. Löhne sind erstaunlich starr. In einer Rezession traut sich kaum ein Unternehmen, den Lohn zu senken. Die Furcht ist gross, dass dann die guten Mitarbeiter, die leicht einen neuen Job finden, frustriert die Firma verlassen und man auf den schlechten Arbeitern sitzenbleibt. Die Gefahr einer solchen «adversen Selektion» führt dazu, dass eher auf Entlassungen als auf Lohnkürzungen gesetzt wird. Auch für Arbeitgeber ist der Lohn bisweilen ein Tabu.