Ein 22-jähriger Afghane, der in einem Wald am Zürichberg eine Joggerin angriff, ist zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 7 Jahren Landesverweis verurteilt worden.
Der erste Teil des Prozesses gegen einen heute 22-jährigen Afghanen am Bezirksgericht Zürich hatte bereits vor einem Jahr, im November 2023, stattgefunden. Das Richtergremium fällte damals aber noch kein Urteil. Man wisse einfach zu wenig über den Beschuldigten und sein Leben in der Schweiz, hatte der Gerichtsvorsitzende erklärt. Man könne seinen psychischen Zustand nicht beurteilen.
Der Beschuldigte hatte sich im Gerichtssaal extrem merkwürdig verhalten und sich an nichts erinnern wollen. Für Prozessbeobachter gab es eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder stand er mental völlig neben den Schuhen, oder er spielte dem Gericht eine Show vor.
Das Bezirksgericht bot deshalb zahlreiche Zeugen aus seinem früheren Umfeld – seine ehemaligen Pflegeeltern, seine Lehrer, seinen Lehrmeister und andere Personen – auf und setzte im September 2024 einen ganzen Tag für deren Einvernahmen ein. Zudem wurde ein psychiatrisches Ergänzungsgutachten angefordert, und der Verfasser befragte die Zeugen im Gerichtssaal gleich selber. Erhellendes zur Psyche des Täters kam dabei aber nicht wirklich heraus.
«Minutenlanger Überlebenskampf»
Am 10. August 2022, morgens kurz nach 7 Uhr, joggte eine damals 34-jährige Frau am Zürichberg in der Nähe des Theaters Rigiblick. Laut Anklage rannte plötzlich ein Mann an ihr vorbei, blieb weiter vorne stehen und fragte die Joggerin: «Wo Zürich?» Diese zeigte mit dem Arm in Richtung Stadt und rannte weiter. Dann nahm sie wahr, wie der Mann sie um den Hals packte, in den Schwitzkasten nahm und zudrückte.
Die Frau wehrte sich. Zusammen rollten die beiden einen Hang hinunter. Laut ihrer Anwältin lieferte sich die Joggerin einen «Überlebenskampf» mit dem Täter. Sie habe sich minutenlang im Unterarmwürgegriff befunden und nach hinten geschlagen. Es gelang ihr dann, mit den Fingern in den Mund des Mannes einzudringen und an dessen Zähnen und Gaumen zu ziehen, so dass er schliesslich losliess und die Flucht ergriff.
Das Opfer erlitt Knochenbrüche an den Fingern, Schürfungen, Hämatome und Blutergüsse und ist seither – auch aufgrund von wiederkehrenden Flashbacks – in Therapie.
Drei Stunden nach der Attacke soll der Mann dann mit entblösstem und erigiertem Glied an der Wasserwerkstrasse in Zürich auf einer Bank gesessen haben, als eine junge Mutter mit einem Kinderwagen an ihm vorbeispazierte. Die Polizei wurde avisiert und der Exhibitionist verhaftet. An seinem Unterarm wurde DNA der Joggerin gefunden. Unter den Fingernägeln der Joggerin haftete seine DNA.
Als 13-Jähriger in die Schweiz gereist
Der Beschuldigte ist in Iran geboren und aufgewachsen, kam 2015 als 13-Jähriger in die Schweiz. Ein Asylgesuch wurde 2016 abgelehnt. Der Jugendliche hatte gegenüber den Behörden angegeben, er sei hierhergekommen, weil die Familie zu wenig Geld gehabt habe. Von 2015 bis 2019 lebte er in einer Pflegefamilie im Kanton Graubünden. Später begann er eine Lehre, fehlte laut dem Lehrmeister aber ständig und machte keinen Abschluss.
Lehrer und Pflegeeltern wundern sich bei ihrer Befragung im Gerichtssaal, dass eine Persisch-Dolmetscherin übersetzt. Der Beschuldigte habe gut Deutsch gesprochen. «Es erstaunt mich mega, dass eine Dolmetscherin hier im Saal ist», erklärt die Pflegemutter.
Der Jugendliche sei fröhlich gewesen, habe es mit den übrigen drei Kindern der Familie – darunter auch ein Mädchen – lustig gehabt, erzählt die Pflegemutter. Er habe nie viel über sich erzählt, auch nicht von seiner Familie und der Flucht. Er könne sehr charmant sein, wenn er wolle. Regeln seien aber nichts für ihn. Mit Mädchen und Frauen sei er respektvoll umgegangen. Sie habe diesbezüglich nie etwas Spezielles bemerkt, berichtet die Pflegemutter.
Seine Persönlichkeit habe sich dann mit der Pubertät verändert. Ab dem 15. Altersjahr sei es schwieriger geworden. Er sei mit anderen Männern aus seinem Heimatland herumgezogen. Er sei verschlossener geworden. Sie glaube, dass er Sachen mit sich herumtrage, über die er nicht reden wolle. Er habe dann von sich aus in ein Flüchtlingsheim umziehen wollen, und das sei auch für die Familie gut gewesen.
Mehrere ehemalige Lehrerinnen und Lehrer beschreiben ihn als überdurchschnittlich intelligent. Eine Lehrerin erklärt, der Beschuldigte habe sich zwar nie gross eingebracht, sie habe aber nicht das Gefühl gehabt, dass psychisch mit ihm etwas nicht in Ordnung gewesen sei.
Der Beschuldigte konsumierte Cannabis und wurde als Täter von Diebstählen bezichtigt, die er aber abstritt. Einmal habe er in der Schule mit einem Messer herumgefuchtelt. Später demolierte er das Motorrad des Pflegevaters. Die Leiterin eines Flüchtlingszentrums berichtet, dass sich mit der Zeit sämtliche anderen afghanischen Flüchtlinge, die sich gut integriert hätten, von ihm abgewandt hätten.
Psychiater kann keine Diagnose stellen
Der 22-jährige Afghane weigerte sich stets, sich psychiatrisch begutachten zu lassen. Der Gutachter kam auch nach den Zeugenbefragungen zum Schluss, dass er keine Diagnose stellen könne. Es gebe zwar den Verdacht auf eine Schizophrenie, aber für eine Diagnose reiche es nicht. Es bestehe hingegen eine hohe Rückfallgefahr für Gewalt- und Sexualdelikte.
Auch bei der neuerlichen Befragung im Gerichtssaal Ende Oktober gibt der Beschuldigte wirre oder gar keine Antworten, zuckt ständig mit den Schultern, beantwortet dieselbe Frage mit Nicken und Kopfschütteln gleichzeitig und sagt immer wieder «ich weiss nicht genau».
Die Staatsanwältin verlangt eine Freiheitsstrafe von 32 Monaten und 5 Jahre Landesverweis wegen versuchter Vergewaltigung, Exhibitionismus und weiterer Delikte. Die Anwältin des Opfers beantragt 12 000 Franken Genugtuung.
Die Verteidigerin will Freisprüche, abgesehen vom Betäubungsmittelkonsum. Dafür soll es 100 Franken Busse geben. Der Beschuldigte sei bereits seit 813 Tagen oder 27 Monaten in Haft und müsste auch bei einer Verurteilung freigelassen werden. Das Gericht suche verzweifelt einen Grund, um ihn nicht aus dem Gefängnis entlassen zu müssen, einen solchen gebe es aber nicht.
Das Bezirksgericht Zürich geht in seinem Urteil dann sogar über den Antrag der Staatsanwältin hinaus. Es verurteilt den Beschuldigten zu einer vollziehbaren Freiheitsstrafe von 36 Monaten und 7 Jahren Landesverweis, allerdings nicht wegen versuchter Vergewaltigung, sondern im Hauptvorwurf wegen versuchter sexueller Nötigung. Man könne nicht genau sagen, was die Absicht des Beschuldigten gewesen sei, sagt der Gerichtsvorsitzende, deshalb müsse man zu seinen Gunsten von einer sexuellen Nötigung ausgehen.
Verurteilt wird er zudem wegen einfacher Körperverletzung und mehrfachem Exhibitionismus. Von den Vorwürfen der Gefährdung des Lebens und der sexuellen Belästigung wird er freigesprochen. Die Joggerin erhält eine Genugtuung von 10 000 Franken. Aufgrund der fehlenden Diagnose kann keine Therapie angeordnet werden.
Die Aussagen des Opfers seien glaubhaft und detailreich, erläutert der vorsitzende Richter. Aufgrund des Gesamtbildes müsse man dem Beschuldigten eine sexuelle Absicht unterstellen. Ein Raub könne es nicht gewesen sein.
Bei der Strafzumessung erklärt der Richter: «Das ist die Horrorvorstellung von jeder Frau, die im Wald joggen geht.» Es bestehe nach wie vor eine grosse Flucht- und Wiederholungsgefahr, deshalb wird die Verlängerung der Sicherheitshaft angeordnet. Bei einem derart schweren Delikt sei der Landesverweis obligatorisch. Es seien ja bereits andere Straftäter nach Afghanistan zurückgeführt worden.
Urteil DG230116 vom 30. 10. 2024, noch nicht rechtskräftig.