Freitag, November 29

Der Kanton Zürich hat viele schöne, aber auch realitätsfremde Ideen zum Gymnasium der Zukunft präsentiert. Er sollte nachsitzen und sein Konzept entschlacken.

Die nächste Schulreform steht an. Dieses Mal trifft es die Gymnasien. Bundesbeamte und die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren haben jahrelang über einem neuen Reglement für die Mittelschulen gebrütet. Die Kantone haben in diesem nationalen Vorschriftenkorsett nach Schlupflöchern gesucht, um sich mit eigenen Vorgaben zu verwirklichen. Was dabei herauskommt, lässt sich derzeit in Zürich beobachten.

Hier hat eine Arbeitsgruppe des kantonalen Mittelschulamts in der vergangenen Woche einen bunten Strauss an Vorschlägen zum Gymnasium der Zukunft vorgelegt. Die Autoren halten ihr Konzept für mutig und innovativ. Richtig ist: Das schöne Papier aus der Amtsstube schwebt über weite Strecken in abgehobenen Sphären. Das zeigt sich gerade bei den zwölf interdisziplinären Vertiefungsrichtungen, die den Schülern kurz vor der Matur zur Wahl stehen sollen.

Ein Beispiel: «Kultur der Mehrsprachigkeit der Schweiz». In diesem neuen Schwerpunktfach sollen sich junge Staatsbürger mit der Vielfalt unseres Landes auseinandersetzen und dabei auch historisch-politische Dimensionen beleuchten. Oder wie wäre es mit der Vertiefung «Antike und ihrer Bedeutung für die Gegenwart», wo Maturanden antikem Denken in Politik, Recht und Wissenschaft bis heute nachspüren sollen? Oder mit «Spanischsprachige Welt», einem ähnlichen Modul, das der früheren Weltmacht Spanien und Lateinamerika gewidmet ist?

Vertiefung wird verunmöglicht

Das klingt alles wunderbar, zumindest in der Theorie. Aber es hat wenig mit der schulischen Realität zu tun. Für den Mehrsprachenschwerpunkt sollen Maturanden bitte schön Italienisch belegen, ein winziges Nischenfach. Für das Altertum-Modul bitte sehr Latein, ein Pièce de Résistance für Bildungsbürger zwar, aber aus Sicht der meisten Gymnasiasten ein Auslaufmodell, zumindest als Vertiefungsrichtung vor der Matur: Alte Sprachen wählen nur noch 4 Prozent der Zürcher Maturanden.

Und «Spanischsprachige Welt»? Das ist eine zerfledderte Verlegenheitslösung, da Zürich monothematische Profile wie die jetzige Spanisch-Matur abschaffen und künftigen Spanisch-Interessierten trotzdem irgendwie ein Angebot machen will.

Bund und Kanton stehen sich mit ihren Bestimmungen selber im Weg. Der Schwerpunkt zur kulturellen Vielfalt der Schweiz ist ein besonders schlechtes Beispiel. Mit Französisch allein wird man dieses Modul nicht belegen können, da ein sprachlicher Schwerpunkt gemäss Maturitätsverordnung des Bundes zwingend mit einer weiteren Sprache kombiniert werden muss. Der eigentliche Zweck der neuen Fächer – Vertiefung – wird ad absurdum geführt: Neben Französisch müssen Maturanden zunächst auch Italienisch pauken, um sich in den letzten Semestern «vertieft» mit Literatur und Medien aus allen Landesteilen befassen zu dürfen. Das ist nicht attraktiv.

Vielfalt in allen Ehren. Aber bei solchen Prämissen muss man sich nicht wundern, sollte sich dieses eigentlich wünschenswerte Fach als Ladenhüter erweisen. Die Bildungsverwaltung hat es mit dem Multilingualisme übertrieben, so schön dieses Nationalideal auch sein mag. Hier müssen die Verantwortlichen dringend nachbessern. Zum Glück bleibt noch Zeit. Die Vernehmlassung hat noch nicht begonnen, in Kraft treten soll die Zürcher Fächerstruktur erst 2029.

Nachhaltig?

Fragen stellen sich auch zu einem weiteren Schwerpunkt: «Nachhaltige Gesellschaft». Was soll das sein?

Auch hier ist der kalte Atem aus Bern zu spüren. Nachhaltige Entwicklung ist in der Bundesverfassung verankert. Also haben sich die Gymnasien auch diesem Bildungsziel zu verpflichten, wie es im neuen Rahmenlehrplan der Erziehungsdirektorenkonferenz unmissverständlich heisst. Laut dem Zürcher Papier sollen Maturandinnen und Maturanden in diesem Fach «die Resilienz von ökologischen, ökonomischen und sozialen Systemen untersuchen und Strategien zur Stärkung dieser Resilienz entwickeln».

Das klingt unreflektiert und politisch motiviert. Ein Maturschwerpunkt sollte auch thematisieren, warum wir Nachhaltigkeit irgendwie alle gut finden und uns trotzdem anders verhalten. Der Mensch will konsumieren. Das ist nicht nachhaltig, war es nie. Der Modebegriff darf nicht zum Totem werden, Gymnasien dürfen nicht zu Kaderschmieden einer ebenso politisch korrekten wie engstirnigen Klimajugend verkommen. Hier ist kritisches Denken gefragt, eine zeitlose Kernkompetenz an Mittelschulen, die es unbedingt zu wahren gilt. Auch hier müssen die Verantwortlichen der Zürcher Bildungsverwaltung nachsitzen.

Guten Unterricht, bitte!

Die Mitarbeiter von Bildungsdirektorin Silvia Steiner (Mitte) sollten ihr Konzept entschlacken. Weniger, dafür überzeugende Schwerpunkte wären besser. Immerhin: Die Stossrichtung der Maturareform stimmt. Die interdisziplinären Schwerpunkte erhalten etwas mehr Gewicht, machen aber weiterhin nur einen kleinen Teil der Stundentafel aus. Die Grundlagenfächer Deutsch, Mathematik und die Naturwissenschaften kommen ungeschoren davon, zumindest wenn man vom neuen Standard ausgeht, der künftig an allen Zürcher Gymnasien gelten soll.

Französisch, Englisch und Geschichte indes würden im Szenario des Mittelschulamts Lektionen verlieren. Widerstand ist programmiert. Aber die Lehrerinnen und Lehrer sollten das Wesentliche nicht aus den Augen verlieren. Gymnasiasten erwarten guten Unterricht von ihnen, auch im neuen Regime. Sei es in Einzellektionen oder in Schwerpunkten mit mehr als einem Fach. Interdisziplinäre Projekte sind für viele Gymilehrer Neuland. Dieser Aufgabe müssen sie sich stellen – egal, was sie von der kommenden Reform halten mögen.

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