Sonntag, September 29

Der Verkehr in der Stadt nimmt ab. Polizisten mit weissen Handschuhen und Trillerpfeife braucht es nicht mehr.

Die Sekundarschule musste man abgeschlossen haben und eine kaufmännische Lehre. Ausserdem war der Fahrausweis eine zwingende Voraussetzung. Keine Pflicht, aber erwünscht waren Kenntnisse in Fremdsprachen.

Als die Stadtpolizei 1961 per Inserat neue «Polizeigehilfinnen» suchte, hatte sie ziemlich hohe Ansprüche – begreiflicherweise. Denn die Aufgabe, die den Frauen bevorstand, war mit einer grossen Verantwortung verbunden: An komplizierten Kreuzungen ohne Lichtsignal sollten sie den Verkehr leiten. In Uniform, mit weissen Handschuhen und einer Trillerpfeife.

Am Heimplatz, am Bellevue, am Hubertus und andernorts installierte die Verkehrspolizei am Anfang der 1950er Jahre kleine, blau-weiss gestreifte Kanzeln. Von ihnen aus dirigierten Angehörige der Stadtpolizei die Autos, Velos und Fussgänger. Sie sorgten dafür, dass man rasch und – vor allem – schadlos aneinander vorbeikam.

Wer sich nicht an die Verkehrsregeln hielt, wurde im wahrsten Sinne des Wortes zurückgepfiffen. In Fällen besonders grober Regelverstösse gab es eine mündliche Massregelung. Fussgänger, die ein Velo durchliessen, obwohl sie an der Reihe gewesen wären, ernteten manchmal aber auch ein mildes Lächeln.

Doch diese Zeiten gehören nun endgültig der Vergangenheit an. Seit Herbst 2023 wird der Polizeiliche Assistenzdienst, wie die Abteilung der einstigen «Polizeigehilfinnen» heute heisst, nicht mehr für die Verkehrsregelung eingesetzt.

Und: Nächste Woche wird auch die letzte Verkehrskanzel der Stadt Zürich abgebaut. Bis am 10. September steht sie noch am Central, danach wird sie ins Polizeigebäude an der Förrlibuckstrasse 61 verbracht. Dort soll sie als «Zeitzeugin» erhalten bleiben. Dies schreibt die Dienstabteilung Verkehr der Stadt am Donnerstag in einer Mitteilung.

Computer wären zu stur gewesen

Dass der Verkehr am Central so lange von Menschen und ihren pantomimischen Gesten geregelt wurde, hat einen simplen Grund: Bis vor kurzem war die dortige Situation so unübersichtlich, dass Computer nicht infrage kamen. Sie wären zwar in der Lage, Fussgänger, Velofahrer, Tram, Trolleybus und Autos sicher aneinander vorbeizulotsen.

Aber Computer sind stur. Sie lassen einen warten, auch wenn überhaupt kein Verkehr ist. Eine Polizistin dagegen erfasst sofort, wenn von der Bahnhofbrücke oder aus der Weinbergstrasse keine Autos kommen. Dann kann sie die Strasse für die anderen Verkehrsteilnehmer freigeben. Das erspart den Beteiligten viel Warterei – und ist erst noch sicherer, als wenn ungeduldige Fussgänger bei Rot über die Strasse eilen, weil vermeintlich kein Auto in Sicht ist.

Doch in den letzten Jahren hat sich das Central immer mehr beruhigt. Das Limmatquai wurde autofrei, vom Pfauen und vom Hauptbahnhof her kommen heute weniger Fahrzeuge als noch vor zehn Jahren. Dadurch ist die Kreuzung übersichtlicher geworden.

So übersichtlich, dass der Verkehr sich selbst überlassen werden kann.

«Das Stiefkind des Strassenbetriebes»

Das Verschwinden der Kanzel mit dem Dach, das von weitem wie ein Hütchen mit LED-Beleuchtung aussieht, markiert das Ende einer Ära: Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte eine Phase der Massenmotorisierung ein. Der wirtschaftliche Aufschwung ermöglichte es weiten Teilen der Bevölkerung, ein eigenes Auto anzuschaffen.

Zürich wurden von einer enormen Blechlawine erfasst. Bald hatte es in der Innenstadt so viele Fahrzeuge, dass es gefährlich wurde. Der Verkehr musste gebändigt werden.

Im Mai 1949 ging an der Bahnhofstrasse die erste Verkehrsampel in Betrieb. Die NZZ verwandte fast eine ganze Seite darauf, die Stadtbevölkerung mit der neuen, 70 000 Franken teuren Anlage vertraut zu machen. Drei Zeichnungen illustrierten, wer wann fahren durfte. In seinem Text erläuterte der Autor minuziös, wie das neue Regime funktionierte.

Besondere Erwähnung findet in dem Bericht, dass für «das Stiefkind des modernen Strassenbetriebes, den Fussgänger» eine eigene Grünphase einkalkuliert war. So konnten nun auch sie «ohne alle Gefährdung» die Strasse queren.

Am Central brauchen sie weder eine Polizistin auf der Kanzel noch Ampeln – so wenig Fahrzeuge sind dort heute unterwegs.

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