Die Kontroverse um das Geschlecht zweier Boxerinnen nimmt kein Ende, beide stehen im Final ihrer Gewichtsklassen. Die Algerierin Khelif ruft zur Mässigung auf.
Noch sind die Olympischen Spiele in Paris nicht vorüber, die letzten Medaillen werden noch vergeben. Zu den Athletinnen und Athleten, die an den verbleibenden drei Tagen dieser Sommerspiele noch um Edelmetall kämpfen, gehört auch die algerische Boxerin Imane Khelif. Sie tritt am Freitagabend im Kampf um Gold im Weltergewicht der Frauen gegen die Chinesin Yang Liu an.
Um die 25-jährige Algerierin war nach ihrem Kampf in der ersten Runde eine Geschlechterdebatte entbrannt: Ist Khelif tatsächlich eine Frau und damit im richtigen Wettbewerb? Oder ist sie nicht doch eher ein Mann und gehört damit disqualifiziert?
Losgetreten hatte die Kontroverse die 25-jährige Italienerin Angela Carini, die sich nach nur 46 Sekunden zurückzog, «um ihre Gesundheit zu schützen», wie sie danach sagte. Sie sei im Ring so hart geschlagen worden wie noch nie zuvor in ihrem Leben.
Medienstar wider Willen
Doch Imane Khelif und auch die Taiwanerin Lin Yu Ting schrieben eine Geschichte, die in unsere Zeit passt und international für Schlagzeilen sorgte: «Was bin ich: Frau oder Mann?» Für das Internationale Olympische Komitee (IOK) war der Sachverhalt klar. Sein deutscher Präsident Thomas Bach sagte im Nachgang zur Kontroverse, beide Boxerinnen seien als Mädchen grossgezogen worden und seien gemäss ihren Pässen auch Frauen. Daran orientiere sich das IOK.
So eindeutig, wie es das IOK und sein Präsident sehen, ist die Sachlage nicht. Der vom IOK nicht mehr anerkannte Verband, die International Boxing Association (IBA), trat diese Woche mit einer Medienmitteilung an die Öffentlichkeit, wonach die beiden Boxerinnen 2022 und 2023 gleich zweimal einem Geschlechtertest unterzogen worden seien. Beide hätten zum gleichen Resultat geführt: Die zwei Athletinnen erfüllten die Kriterien der IBA nicht, um an einem Wettbewerb der Frauen teilzunehmen. Der Verband schloss die beiden Boxerinnen daraufhin von den Weltmeisterschaften 2023 in Indien aus.
Das IOK liess das entsprechende Schreiben der IBA unbeachtet und erteilte den beiden die Zulassung für die Sommerspiele in Paris. Seither werden die Kämpfe von Lin und Khelif einer heftig geführten Startrechts-Kontroverse begleitet. Diese geht weit über den Sport hinaus und erfasst auch höchste politische Kreise. Sogar die italienische Ministerpräsidentin Georgia Meloni mischte sich in den sozialen Netzwerken in die Diskussion ein.
Das IOK nannte den Ausschluss der Boxerinnen von den Weltmeisterschaften «eine willkürliche Entscheidung ohne ordnungsgemässes Verfahren» und schrieb, das im Pass angegebene Geschlecht sei für viele Sportarten massgeblich für die Zulassung zu den Wettbewerben.
Im Streit zwischen dem IOK und dem internationalen Box-Verband geht es nicht alleine um die Geschlechterfrage, sondern auch um einen bereits seit längerem schwelenden Machtkampf. Das IOK hatte die vom Kreml-nahen Präsidenten Umar Kremlew geführte IBA 2019 ausgeschlossen und unter Zwangsverwaltung gestellt, weil der Verband die Gewaltentrennung missachtete und die Politik zu stark Einfluss nehmen liess. Das Urteil wurde vor einem Jahr vom Internationalen Sportgerichtshof in Lausanne bestätigt.
Bach sagte nach dem Ausschluss der IBA: «Wir haben kein Problem mit der Sportart Boxen, den Boxern oder ihren Werten. Aber wir haben ein extrem ernstes Problem mit der IBA. Die Boxer verdienen es, von einem Verband vertreten zu werden, der Integrität und Transparenz lebt.» Das IOK bemängelte «mangelnde finanzielle Transparenz» und «fehlende Integrität der Schiedsprozesse». Damit ist das Boxen ohne olympischen Verband. Ein Konkurrenzverband namens World Boxing steht aber schon bereit. Wie bereits bei den Spielen in Tokio verantwortete die Qualifikation für Paris 2024 und die Durchführung der olympischen Boxkämpfe eine vom IOK eingesetzte Task-Force.
Vor allem Imane Khelif wurde deshalb zu einer Art Spielball der internationalen Sportpolitik, ihr Fall zu einer Machtprobe zwischen IOK und Kreml-nahen Kreisen. Sie trotzte dem immensen Druck, dem sie nach dem Kampf gegen die Italienerin ausgesetzt war, und kämpfte sich bis in den Final der Gewichtsklasse bis 69 kg (Welter) vor. Im Halbfinal bezwang sie die thailändische WM-Silbermedaillengewinnerin Janjaem Suwannapheng nach Punkten. Und nach Khelif hielt auch Lin Yu Ting dem Druck stand und zog in den Olympiafinal ein.
Eine grosse algerische Anhängerschaft auf der Tribüne des 15 000 Zuschauer fassenden Tennis-Courts Philippe-Chatrier feierte Khelif mit «Imane, Imane»-Sprechchören. Daraufhin legte diese einen Tanz hin. Die letzten Tage war für sie emotional und nervenaufreibend gewesen.
Wie Lin Yu Ting hatte Khelif bereits an den Box-Wettbewerben der Sommerspiele 2021 in Tokio teilgenommen, ohne dass dabei ihr Geschlecht infrage gestellt worden wäre. An einer chaotischen Medienkonferenz am Montag sagte der IBA-Präsident Kremlew, genetische Tests hätten zweifellos bewiesen, dass Khelif und Lin Yu Ting Männer seien.
Carini will Khelif um Entschuldigung bitten
Angela Carini hat in der italienischen Sportzeitung «Gazzetta dello Sport» bereits um Nachsicht für ihr Verhalten und ihre Aussagen gebeten. Sie hatte ihrer Konkurrentin nach der Aufgabe auch den üblichen Handshake verweigert. Die Algerierin tue ihr leid. «Wenn das IOK entscheidet, dass Khelif starten darf, dann habe auch ich das zu akzeptieren. Es war nicht meine Absicht, meine Reaktion geschah aus der Enttäuschung heraus. Ich war wütend, dass sich mein olympischer Traum in Rauch aufgelöst hat.» Bei nächster Gelegenheit werde sie Khelif um Entschuldigung bitten und umarmen.
Khelif äusserte sich nach ihrem Viertelfinal-Kampf gegen die Ungarin Luca Hamori zur Kontroverse, die die Diskussion über ihr Geschlecht ausgelöst hatte. Mit einer algerischen Flagge um die Hüfte und gegen die Tränen kämpfend, sagte sie: «Ich möchte der ganzen Welt sagen: Ich bin eine Frau, und ich werde immer eine Frau bleiben. Ich widme diese Medaille der ganzen Welt und all den Arabern. Und ich sage: Lang lebe Algerien.»
In einem Interview mit dem TV-Kanal der internationalen Nachrichtenagentur Associated Press rief Khelif überdies dazu auf, die von Hass und falschen Vorstellungen geprägte Geschlechterdiskussion zu stoppen. «Es geht dabei um die Würde der Menschen. Ich sende eine Nachricht an all jene Menschen, die die olympischen Prinzipien hochhalten.» Ihr Aufruf dürfte ein frommer Wunsch bleiben in einer Welt der zunehmenden Polarisierung, in der viele aus jeder Kleinigkeit eine Frage des Prinzips machen.
Imane Khelif möchte jetzt zuerst einmal Olympiagold gewinnen.