Samstag, September 28

Laut mehreren Studien würde eine stärkere Kostenbeteiligung von Patienten nicht nur die Prämien senken, sondern auch die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen.

Seit Donnerstag weiss man, dass die Prämien in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) auf 2025 erneut stark steigen werden – um etwa 6 Prozent im Durchschnitt. Will man ein qualitativ hochstehendes Gesundheitswesen, geht das nicht zum Billigtarif.

Doch zumindest in der Theorie ginge es auch ein Stück günstiger. Denn viele Akteure im Gesundheitswesen haben keine grossen Sparanreize. Oft gilt das für Patienten, Ärzte, Spitäler, Kantone und zum Teil sogar für die Krankenkassen. Durch die Beseitigung von Fehlanreizen liessen sich laut gängiger Expertenschätzung 10 bis 20 Prozent der Kosten ohne bedeutende Qualitätseinbussen einsparen.

Gesundheitsministerin Elisabeth Baume-Schneider kündigte einen runden Tisch mit Akteuren des Gesundheitswesens zur Prüfung von Sparvorschlägen an. Doch solche Vorschläge sorgen meist für heftigen Widerstand. So verspricht zum Beispiel die vom Parlament beschlossene Reform zur neu gleichmässigen Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen erhebliche Einsparungen durch Beseitigung von Fehlanreizen. Doch die Reform muss wegen eines Referendums im November noch die Hürde einer Volksabstimmung überspringen.

1,2 Millionen mit Minimum

Ein weiterer Sparvorschlag setzt bei den Versicherten an, aber auch dieser ist umstritten. Der Ständerat hat am Donnerstag einen sehr vorsichtig formulierten Vorstoss angenommen, der vom Bundesrat fordert, dass die Mindestfranchise für Erwachsene «besser die aktuelle Kostensituation» in der OKP abbildet. Zahlen nennt der Vorstoss nicht. Das gesetzliche Minimum der Jahresfranchise liegt zurzeit bei 300 Franken. Seit 2004 ist dieser Wert unverändert, obwohl die OKP-Kosten pro Versicherten seither um über 70 Prozent gestiegen sind und die allgemeine Teuerung rund 12 Prozent betrug. Linke Ständeräte bezeichneten den Vorschlag als Angriff auf verletzliche Gruppen – Chronischkranke und generell ältere Personen.

Was wären die Folgen einer Erhöhung der Mindestfranchise? 1996, im Startjahr des Krankenversicherungsgesetzes, hatten noch rund zwei Drittel aller Versicherten die gesetzliche Mindestfranchise (für Erwachsene damals 150 Franken). Heute sind es etwa 14 Prozent – noch über 1,2 Millionen Versicherte.

Eine Erhöhung der Franchise führt ohne sonstige Änderungen zu einer Senkung der Jahresprämie, weil der Kostenanteil der Krankenkassen sinkt. Zudem ist zu erwarten, dass die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen durch Versicherte bei höherer Franchise sinkt. Doch in welchem Ausmass sie sinkt und ob die Betroffenen dann eher auf «unnötige» oder «nötige» Leistungen verzichten, sind die grossen Fragen.

Spürbare Wirkung

Die Forschungsliteratur liefert Hinweise dazu. Einen Überblick über die in- und ausländische Forschung gab 2017 eine Studie der Basler Beratungsfirma BSS und der Universität Bern im Auftrag des Bundes. Laut der Zusammenfassung der Autoren kam schon in den 1970er und 1980er Jahren eine grosse Experimentalstudie in den USA mit zufälliger Zuteilung von Versicherten auf verschiedene Kostenbeteiligungen zu dem Schluss, dass eine Erhöhung der selbst getragenen Kosten um 10 Prozent die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen um 2 Prozent senkt.

Die Kostenbeteiligung in dem Experiment aus den USA hatte laut dem Überblick kaum Auswirkungen auf den Gesundheitszustand. Und bei Versicherten mit geringen Kostenbeteiligungen sei die Nachfrage nach «sinnvollen» und «sinnlosen» Therapien etwa gleich stark gestiegen. Zwei Schweizer Untersuchungen kamen 2015 und 2016 auf ähnlich grosse Reaktionsmuster wie die amerikanische Studie.

Heuer ermittelte eine Analyse der Universität Basel mit Daten der Krankenkasse Helsana, dass die Bruttoleistungen für Versicherte mit Franchise von 500 Franken im Mittel rund 1200 Franken tiefer waren als für Versicherte mit Franchise von 300 Franken.

Hauptgrund für die Differenz: Eher Gesündere wählen höhere Franchisen. Doch nach Ausklammerung dieses Selektionseffekts orteten die Forscher noch eine verbliebene Differenz in den Versicherungsleistungen von rund 200 Franken pro Versicherten. Das heisst, die höhere Franchise dürfte die Nachfrage nach Leistungen um den erwähnten Betrag gedrückt haben. Zusammen mit der grösseren Selbstbeteiligung resultierte für die Kasse eine Einsparung von total 360 Franken pro Versicherten.

Die Erhöhung der Franchise auf 500 Franken brächte laut den Forschern «systemweite Einsparungen» und damit auch eine Prämiensenkung. Im Gegenzug müssten Betroffene mit einer Erhöhung der Selbstbeteiligung von maximal 200 Franken pro Jahr rechnen.

Die Helsana-Daten zeigen laut den Forschern eine klare Tendenz: Mit zunehmenden Einkommen steigt der Anteil von Versicherten mit höherer Franchise. Zwei Faktoren dürften gemäss den Autoren mitspielen: In tieferen Einkommensklassen sind tendenziell höhere Krankheitskosten zu erwarten, und bei den Geringverdienern scheint das Risiko einer höheren Kostenbeteiligung eine grössere Rolle zu spielen als die Prämieneinsparung.

Das vorläufige Fazit aus der Forschung: Eine höhere Kostenbeteiligung kann die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen spürbar senken. Das ist positiv, wenn damit «unnötige» Behandlungen unterbleiben. Es ist negativ bei Verzicht auf «sinnvolle» Behandlungen.

Verzicht wegen Geldmangel

Welche Fälle häufiger vorkommen, ist unklar. Die Forscher von BSS und der Universität Bern fanden in ihren eigenen Untersuchungen von 2017 «keine Hinweise, dass der Einfluss der Franchisenhöhe auf Leistungsverzicht bei einkommensschwachen Personen signifikant grösser ist als bei besser verdienenden Personen». Die Folgerung daraus: «Somit dürfte die Franchisenwahl nicht der massgebende Treiber dafür sein, dass bestimmte Personen auf Gesundheitsleistungen verzichten, weil sie diese nicht selber bezahlen können.»

Laut einem Bericht des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums hatten 2020 in einer Befragung 23 Prozent erklärt, in den vorangegangenen zwölf Monaten aus Kostengründen auf Gesundheitsleistungen verzichtet zu haben. Unklar blieb, welcher Teil dieses Verzichts «unnötige» Leistungen betraf. In der Erhebung der Bundesstatistiker von 2022 über die Einkommens- und Lebensbedingungen erklärten je nach Haushaltstyp etwa 1 bis 6 Prozent der Befragten, dass sie aus finanziellen Gründen auf eine «notwendige» medizinische oder zahnärztliche Behandlung verzichten mussten.

Gemäss einer Übersicht des Ländervereins OECD liegt in der Schweiz die Kostenbeteiligung von Patienten leicht über dem OECD-Mittel von 18 Prozent. Gemessen an den gesamten Gesundheitskosten in der Schweiz hat der Anteil der Selbstzahlungen seit 1995 von gut 30 Prozent auf knapp 22 Prozent abgenommen. Im Gegenzug stieg der Finanzierungsanteil des Staats von 15 Prozent auf 22 Prozent. Der Anteil der OKP wuchs von 29 auf knapp 38 Prozent.

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