Die Teuerung in der Euro-Zone liegt nur noch knapp über dem Zielwert der EZB von 2 Prozent. Deshalb hat die Notenbank am Donnerstag zum zweiten Mal den Leitzins reduziert. Es gibt aber weiter Unsicherheiten.
Der heisse August ist nur noch eine Erinnerung. Das gilt auch für viele Mitglieder des EZB-Rates, die sich am Donnerstag im herbstlichen Frankfurt zur turnusmässigen Sitzung getroffen haben. Mit ihrer Entscheidung knüpfen sie jedoch an die im Frühsommer eingeleitete Zinswende an: Zum zweiten Mal senkte der Rat den derzeitigen Leitzins, den Einlagensatz, um 0,25 Prozentpunkte auf nunmehr 3,5 Prozent.
Im Juni hatte die EZB mit einem ebensolchen Schritt die Zinswende eingeleitet. Einen Monat später warteten die Notenbanker im Juli dann ab, indem sie die Zinsen unverändert liessen.
Kerninflation stagniert nahe 3 Prozent
Die zweite Zinssenkung in diesem Jahr wurde möglich, weil sich sowohl das geldpolitische als auch das konjunkturelle Umfeld in den vergangenen zwei Monaten verändert hat. In der Euro-Zone ist die Inflation laut einer vorläufigen Berechnung durch die europäische Statistikbehörde Eurostat im August von 2,6 auf 2,2 Prozent gesunken. Damit nähert sich die zeitweise enorm hohe Teuerung dem Zielwert der EZB an, die auf mittlere Frist eine Inflationsrate von 2 Prozent anstrebt.
Laut der Präsidentin Christine Lagarde erwartet die EZB zwar, dass die Inflation im letzten Teil des laufenden Jahres wieder steigen wird. Das sei zum Teil darauf zurückzuführen, dass vorangegangene starke Rückgänge der Energiepreise aus der Berechnung der Inflation herausfallen würden. Allerdings werde die Inflation dann im Lauf der zweiten Hälfte des Jahres 2025 in Richtung des EZB-Ziels sinken.
Sorgen bereitet der EZB weiter der Preisanstieg im Dienstleistungssektor mit 4,2 Prozent, denn das war sogar eine Zunahme gegenüber dem Vormonat und stellt den höchsten Wert in diesem Jahr dar. Der Preisanstieg für Lebensmittel, Alkohol und Tabak betrug 2,4 Prozent, was im Vormonatsvergleich ebenfalls eine geringfügige Zunahme war.
Zudem stagniert die Kerninflation seit Monaten bei knapp 3 Prozent. Auf sie achten Notenbanker als Indiz für den Inflationstrend besonders, weil aus ihr die volatilen Preise für Energie und Lebensmittel herausgerechnet werden. Die EZB prognostiziert jedoch, dass die Kerninflation von durchschnittlich 2,9 Prozent in diesem Jahr auf 2,3 Prozent im Jahr 2025 und 2,0 Prozent im Jahr 2026 zurückgehen wird.
Positive Signale gab es hingegen von der Lohnentwicklung, die sich auf immer noch hohem Niveau im zweiten Quartal abgeschwächt hat. Löhne und Gehälter sind ein wichtiger Treiber für die Teuerung. Aus Sicht vieler Ökonomen ist es unter dem Strich aber noch deutlich zu früh, um schon jetzt einen Sieg im Kampf gegen die Inflation auszurufen.
Zugleich hat sich in den vergangenen Monaten das wirtschaftliche Umfeld in der Euro-Zone eingetrübt. Das Bruttoinlandprodukt legte zwar in den ersten beiden Quartalen um 0,3 und 0,2 Prozent zu, doch für das Gesamtjahr rechnen Ökonomen im Durchschnitt lediglich mit einem realen Bruttoinlandprodukt (BIP) von 0,7 Prozent. Im derzeit schwachen privaten Konsum und in der schwachen Investitionstätigkeit würden sich die restriktiven Finanzierungsbedingungen spiegeln, erläuterte Lagarde während der Medienkonferenz.
Mit Deutschland befand sich ausserdem das grösste Mitgliedsland gut zwei Jahre lang in einer Stagflation, also einer Mischung aus wirtschaftlicher Stagnation und hoher Inflation. Da die Teuerung in Deutschland zuletzt jedoch nach deutscher Berechnungsmethode auf 1,9 und nach europäischer auf 2 Prozent gesunken ist, hat sich die Stagflation zu einer reinen Stagnation entwickelt.
Ein Ende der Konjunkturschwäche, vor allem der deutschen Industrie, ist derzeit allerdings nicht absehbar. Manche Ökonomen erwarten sogar eine weitere Verschlechterung, was sich auch auf die Entwicklung in der gesamten Euro-Zone negativ auswirken könnte.
An den Finanzmärkten war fest mit der zweiten Zinssenkung gerechnet worden, weshalb sich die Diskussion dort längst um die mittelfristige Zinsentwicklung dreht. Die meisten Ökonomen erwarten noch einen Zinsschritt um 0,25 Prozentpunkte im Dezember, wobei einige wegen der Konjunkturflaute eine Reduktion im Oktober nicht ausschliessen. Lagarde betonte, der EZB-Rat werde künftige Zinsentscheide weiter von den eintreffenden Daten abhängig machen und von Sitzung zu Sitzung entscheiden. Es gebe keine Vorfestlegung auf einen Zinspfad.
Als Zielniveau im laufenden Zinssenkungszyklus sehen Beobachter den Bereich von 2 bis 2,5 Prozent gegen Mitte oder Ende des Jahres 2025. Dort wird auch ungefähr der neutrale Zins verortet, bei dem die Geldpolitik weder expansiv noch restriktiv wirkt. Diesen Zins kann man jedoch nicht messen, sondern nur schätzen, weshalb das vermutete Niveau immer wieder für Diskussionen unter Ökonomen sorgt.
Anpassung des operativen Handlungsrahmens
Die EZB hat am Donnerstag mit der Zinssenkung um 0,25 Prozentpunkte nicht nur das monetäre Umfeld adjustiert, sondern darüber hinaus auch eine Mitte März angekündigte Anpassung ihres operativen Rahmens vorgenommen. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Notenbank mitgeteilt, im September den Abstand zwischen dem Einlagensatz* und dem Hauptrefinanzierungssatz* von 0,5 auf 0,15 Prozentpunkte zu senken. Entsprechend reduziert sie Letzteren per 18. September um 0,6 Prozentpunkte auf 3,65 Prozent. Der Zins für die Spitzenrefinanzierung* sinkt ebenfalls um 0,6 Prozentpunkte auf nun 3,9 Prozent. Die Abstandsänderungen zum Einlagensatz sind aber keine geldpolitische Massnahme und haben daher keinen Einfluss auf das monetäre Umfeld.
Aufgrund der enormen Überschussliquidität im Markt von derzeit noch rund 3 Billionen Euro, welche die EZB unter anderen durch die Wertpapierkäufe selbst geschaffen hat, ist der Hauptrefinanzierungssatz für die Banken seit Jahren kaum noch relevant. Die EZB steuert die Geldpolitik daher über den Einlagensatz und nicht mehr wie früher über den Hauptrefinanzierungssatz. Der Einlagensatz avancierte so zum eigentlichen Leitzins, der auch eine wichtige Rolle für diejenigen Zinsen spielt, die Banken an die Sparer weitergeben.
Die Notenbank reduziert inzwischen jedoch die Überschussliquidität langsam und will mit der Verringerung der Abstände zwischen den Zinssätzen eine Normalisierung der Geldpolitik unterstützen.
* Die EZB hat drei Leitzinssätze: den Einlagensatz, den Hauptrefinanzierungssatz und den Spitzenrefinanzierungssatz. Der Einlagensatz gibt die Höhe der Zinsen vor, die Banken erhalten, wenn sie bis zum nächsten Geschäftstag Geld bei der Zentralbank anlegen. Der Hauptrefinanzierungssatz bestimmt dagegen den Preis, zu dem sich umgekehrt Banken bei der Zentralbank für eine Woche Liquidität beschaffen können. Benötigen sie Liquidität nur über Nacht bis zum nächsten Geschäftstag, können sie den Spitzenrefinanzierungssatz nutzen, für den jedoch ein höherer Zins anfällt.
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