Lange dachte man, das Lernen in der Schule liesse sich gemäss der Funktionsweise des Gehirns gestalten. Mittlerweile ist der Neurohype in der Pädagogik vorbei. Geblieben sind erstaunlich viele Mythen.
Das menschliche Gehirn ist eine Lernmaschine. Von Geburt an werden unablässig Informationen aufgesogen, verarbeitet und abgespeichert. Tagein, tagaus. Sogar im Schlaf soll das Gehirn lernen. Doch stimmt das wirklich? Nein. Die Aussage ist ein klassischer Neuromythos, also eine falsche Vorstellung davon, wie das neuronale Netzwerk in unseren Köpfen einen Lernprozess verarbeitet.
Zwar stimmt es, dass das Gehirn die über den Tag hinweg aufgenommenen Informationen im Schlaf ordnet und verfestigt, doch neue Inhalte können nicht aufgenommen werden. Diese Behauptung ist nicht die einzige falsche Vorstellung von der Funktionsweise des lernenden Gehirns. Umfragen zeigen, dass gerade bei Lehrpersonen und Pädagogen eine ganze Reihe von Neuromythen stark verbreitet sind.
Gehirngerechter Unterricht
Seit den 1990er Jahren haben Erkenntnisse der Hirnforschung das Verständnis für die Lernprozesse im Gehirn unheimlich vertieft. Neue Technologien wie die funktionelle Magnetresonanztomografie oder die Elektroenzephalografie zeigen, welche neuronalen Netzwerke beim Rechnen, beim Sprachenlernen oder in musischen Fächern aktiv sind. Damit verbunden war die Hoffnung auf eine wissenschaftlich begründete Neuropädagogik, die den Unterricht gehirngerecht gestalten kann.
Inzwischen hat sich der Neuro-Hype in der Pädagogik wieder gelegt. «Zu wissen, welche Hirnregion bei bestimmten Aufgaben aktiv ist, ist für die Gestaltung des Unterrichts nicht relevant», sagt der Psychologe und Begabungsforscher Roland Grabner. «Denn Unterricht ist ein hochkomplexer Prozess, bei dem der Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler von vielen Faktoren – auch kulturellen, sozialen und emotionalen – beeinflusst wird.» Grabner forscht am Institut für Psychologie der Universität Graz und arbeitet intensiv mit neurowissenschaftlichen Methoden.
Weltweit verbreitete Fehlkonzepte
Geblieben sind die Neuromythen. Bereits im Jahr 2002 haben Neurowissenschafter und Erziehungsforscherinnen im interdisziplinären OECD-Projekt «Brain and Learning» gemeinsam eine Handvoll Neuromythen definiert. In der Zwischenzeit wurden in verschiedenen Ländern mehrere Umfragestudien unter Lehrpersonen und Pädagogen durchgeführt. In diesen Untersuchungen werden den Teilnehmenden einschlägige Aussagen über die Funktionen des Gehirns vorgelegt: etwa die Behauptung, dass der Mensch nur 10 Prozent seines Gehirns nutze, oder auch die Feststellung, dass die rechte Hirnhälfte eher für das kreative und die linke Hälfte für das analytische Denken verantwortlich sei. Beide Aussagen sind wissenschaftlich unbegründet.
Die Ergebnisse sind weltweit ähnlich: Die Aussage etwa, dass der Mensch nur 10 Prozent des Gehirns nutzt, erhielt über alle untersuchten Länder hinweg eine Zustimmung von rund 50 Prozent. Je nach Mythos finden bis zu 90 Prozent der Fehlkonzepte die Zustimmung der Lehrpersonen und Pädagogen.
Vier verbreitete Neuromythen über das Lernen
Linke und rechte Gehirnhälfte
Mythos: Die linke Hirnhälfte denkt analytisch, verbal und rational, die rechte Hälfte ist kreativ, intuitiv und nichtverbal, und unser Schulsystem fokussiert zu sehr auf die linke Hirnhälfte.
Wissenschaftliche Evidenz: Tatsächlich unterscheiden sich die beiden Hirnhälften in ihrer Struktur und Funktion. Doch bei allen für das Lernen relevanten Aufgaben sind Areale beider Hirnhälften involviert, die zudem über den Balken (Corpus Callosum) mit einem Strang von 250 Millionen Nervenzellen verbunden sind und ständig kommunizieren. Beim Spracherwerb etwa findet das Erkennen der Sprachmelodie oder das Lesen zwischen den Zeilen in der «nonverbalen» rechten Hirnhälfte statt.
Begrenzte Lernphasen
Mythos: Das Alter von 0 bis 3 Jahren ist ein kritisches Zeitfenster, danach können bestimmte Dinge nicht mehr gelernt werden. Die Kleinkinder sollten deshalb möglichst viele und gute Stimuli erhalten, zum Beispiel klassische Musik hören.
Wissenschaftliche Evidenz: Zwar gibt es sensible Phasen, in denen spezifische Dinge (zum Beispiel Spracherwerb, Verarbeitung visueller Signale) von den zuständigen Hirnarealen schneller gelernt werden, und die vollständige Absenz von Anregungen kann sogar zu irreversiblen Schäden führen. Doch die Fähigkeit des Gehirns, neue Nervenverbindungen zu bilden – seine Plastizität –, hält ein Leben lang an. Zudem wird der Lernprozess nicht durch die Art der Stimuli selbst bestimmt, sondern dadurch, wie sie verarbeitet werden. Dieser Prozess lässt sich nicht kontrollieren.
Ungenutzte Hirnkapazität
Mythos: Hirnbilder zeigen, dass wir nur 10 Prozent unseres Gehirns nutzen. Deshalb sollten wird die Denkkapazität mit bewusstseinsfördernden Substanzen, Meditation oder Hirntraining ausbauen.
Wissenschaftliche Evidenz: Auch wenn nicht bei allen Aufgaben jederzeit alle Areale in die direkte Verarbeitung der Prozesse involviert sind, sind die anderen Areale nicht ungenutzt. Selbst wenn diese Areale in den bildgebenden Verfahren wenig Aktivität zeigen, befinden sie sich in einer Art Stand-by-Modus mit einer konstanten Grundaktivität.
Muttersprache beherrschen
Mythos: Bevor man eine zweite Sprache lernt, sollte man die Muttersprache perfekt beherrschen, sonst entsteht ein Durcheinander der beiden Sprachen im Gehirn, mit schädlichen Folgen für die Entwicklung des Kindes.
Wissenschaftliche Evidenz: Die Forschung zeigt, dass der Mensch dank der Flexibilität seines Gehirns eine hohe Fähigkeit hat, verschiedene Sprachen gleichzeitig zu erwerben. Gemäss Studien verstehen zweisprachige Kinder die allgemeine Struktur von Sprachen besser und können sie auch besser anwenden.
«Falsche Vorstellungen von den Funktionen des Gehirns können einen Einfluss auf die didaktischen Methoden haben und widersprechen der Forderung nach einem evidenzbasierten Unterricht», sagt Roland Grabner. «Deshalb ist es wichtig, die Neuromythen zu hinterfragen, denn sonst werden sie von Generation zu Generation weitergegeben.»
Das Märchen vom Lerntyp
Der am weitesten verbreitete Neuromythos betrifft die Lerntypen-Hypothese: Gemäss dieser lassen sich die Menschen unterteilen in visuelle, auditorische und kinästhetische Lerntypen. Visuelle Typen prägen sich Stoffe besser ein, wenn diese über Bilder, Videos oder Texte vermittelt werden. Auditorische Typen funktionieren eher über Gehörtes, und für kinästhetische Menschen sollte die Vermittlung in Verbindung mit Bewegung oder Ertasten geschehen. Sie wollen den Stoff wortwörtlich «begreifen». In allen untersuchten Ländern, von den USA bis China, stimmten rund 90 Prozent aller befragten Pädagogikfachleute diesem Mythos zu.
Die Idee ist zwar plausibel, weil es bei der Aufnahme von Lernstoff tatsächlich individuelle Vorlieben für einen Sinneskanal gibt. Die Annahme jedoch, dass Menschen über einen Kanal konsistent besser lernen als über einen anderen, wurde in vielen Studien widerlegt. Zudem halten die Tests, welche die Menschen in Lerntypen einordnen, den Qualitätsanforderungen für psychologische Testverfahren nicht stand.
Positive und negative Folgen
Die Verbreitung solcher Fehlkonzepte ist beim pädagogischen Personal zwar eher geringer als in der Allgemeinbevölkerung. Eine Studie in den USA etwa fand eine mittlere Zustimmungsrate von 56 Prozent bei den Lehrkräften gegenüber 68 Prozent in der Bevölkerung. Doch da die Lehrpersonen ihre Ideen in den Unterricht tragen, könnte auch der Lernerfolg der Kinder davon betroffen sein.
Roland Grabner und sein Team haben festgestellt, dass sich die Neuromythen hartnäckig halten und von einer Lehrergeneration an die nächste weitergegeben werden. Eine Online-Umfrage bei rund 160 Professorinnen und Dozenten von pädagogischen Hochschulen und Universitäten hat ergeben, dass rund 90 Prozent der Befragten den Lerntyp-Mythos bewusst an ihre Studierenden vermitteln. Und 80 Prozent befanden, dass das Modell in der Schule berücksichtigt werden sollte.
Ob Neuromythen den Unterricht tatsächlich negativ beeinflussen, wurde jedoch noch kaum untersucht. Die Folgen können laut Roland Grabner sogar positiv sein. Wenn zum Beispiel die Vorstellung der unterschiedlichen Lerntypen dazu führt, dass die Lehrpersonen den Schulstoff mit vielfältigen Methoden vermitteln, kann dies für das Lernen aller Kinder förderlich sein. Hingegen kann der Neuromythos, wonach sich Kinder nach einem zeitlich begrenzten Lernfenster bestimmte Dinge nicht mehr aneignen können, zur Folge haben, dass leistungsschwache Schülerinnen und Schüler zu wenig gefördert werden.
Lebenslange Lernfähigkeit des Gehirns
Eine der wenigen Studien, welche die Bedeutung von Neuromythen für die praktische Tätigkeit der Lehrpersonen im Schulzimmer ergründete, haben australische Forscher um Jared Cooney Horvath und John Hattie gemacht. Darin verglichen sie die Zustimmung zu Neuromythen von preisgekrönten Lehrpersonen mit einer Kontrollgruppe von Lehrpersonen, die nicht ausgezeichnet worden sind – unter der Annahme, dass ausgezeichnete Lehrpersonen einen besseren Unterricht gestalten. Befund: Bei den meisten Neuromythen gab es in beiden Gruppen kaum Unterschiede in der Zustimmungsrate.
In zwei Fehlkonzepten schnitten die preisgekrönten Lehrpersonen jedoch besser ab: bei der Annahme, dass Kinder zuerst ihre Muttersprache sehr gut beherrschen müssten, bevor sie sich eine weitere Sprache gut aneignen könnten, sowie bei der Aussage, dass im Verlaufe der Kindesentwicklung kritische Lernfenster bestünden, ausserhalb derer die Lernfähigkeit drastisch abnehme. Beide Annahmen sind falsch, was die preisgekrönten Lehrer signifikant besser erkannt haben.
Das überrascht Roland Grabner nicht. Denn beide Aussagen betreffen die neurowissenschaftliche Erkenntnis der Wandelbarkeit des Gehirns, seine Plastizität. «Wenn ein Lehrer weiss, dass sich die Fähigkeiten seiner Schülerinnen und Schüler verändern und entwickeln können», sagt Roland Grabner, «glaubt er auch mehr an seine Selbstwirksamkeit im Beruf.»