Milliardäre schmieden Pläne für die Auswanderung, und das Land gönnt seinen Pensionierten eine 13. AHV-Rente. So kümmerlich sind die politischen Träume der einst kühnen Nation geworden.
Eins ist sicher: Müssten unsere sieben Bundesräte die Schweiz noch einmal gründen, sie würden scheitern. Sie kämen vor lauter Ängstlichkeit an kein Ziel. Sie würden reden und sinnieren, Bedenken wälzen und die Stirne in Falten legen, Vorteile und Nachteile sorgsam auflisten und abwägen. Dann würden sie beschliessen, fürs Erste noch nichts zu beschliessen. Nur nichts überstürzen, so hiess insgeheim noch immer das Motto von Schweizer Regierungen.
Damit sind sie ganz auf Linie mit ihren Landsleuten. «Nur nichts überstürzen» hiess es regelmässig, wenn es darum gegangen wäre, das Frauenstimmrecht einzuführen. Nichts wurde überstürzt, als die Schweiz der Uno beitrat, als es darum ging, die Ukraine zu unterstützen oder die Sanktionen der EU zu übernehmen. Es ist zu unserer zweiten Natur geworden. Eugen Gomringer hat es in die Verse seines legendären Gedichts «schwiizer» gegossen: «luege / aaluege / zueluege // nöd rede / sicher sii / nu luege». So war das, so muss es nicht bleiben.
Der deutsche Psychiater und Angstforscher Borwin Bandelow hat einmal die Ängstlichkeit der Schweizer damit erklärt, dass sie mit ihren vielen Bergen jedes Jahr sehr viel länger im Schnee ausharren mussten. Das hat sie vorsichtig gemacht und in heutigen Zeiten zu Weltmeistern der Versicherung. Zehn Prozent ihres Haushalteinkommens geben die Schweizer für Versicherungen aus.
Einmal aber müssen die Schweizer, die damals noch nicht so hiessen, ihre Bedenken überwunden haben. Im 13. Jahrhundert haben sie sich gegen den lokalen Adel aufgelehnt, nicht etwa aus rebellischem oder urdemokratischem Geist, aber um ihre Privilegien als Grundbesitzer nicht zu verlieren. Sie haben sich aufgerafft, haben Bedenken zur Seite gewischt und sind zur Tat geschritten. Vielleicht waren sie kühn, vor allem werden sie entschlossen gewesen sein.
Ein untaugliches Geschäftsmodell
Vor Wochenfrist hat Bundesrat Beat Jans in einem Gastbeitrag für die NZZ ein paar vermeintliche oder aus seiner Sicht gute Gründe aufgezählt, wieso die Schweiz beherzt die Beziehungen mit der EU auf ein neues Fundament stellen soll. Zu den angeblich schlagkräftigen Argumenten zählt Jans ausgerechnet die fadenscheinigste Begründung: Der Wohlstand der Schweiz beruht zu wesentlichen Teilen auf der Zuwanderung, schreibt er.
Vielleicht trieb es ihm nicht einmal die Schamröte ins Gesicht, als er seinen Gedanken formulierte: «Weil die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen, sind wir auf Zuwanderung angewiesen. (. . .) Allein von den zwischen 2012 und 2021 in der Schweiz neu zugelassenen Ärztinnen und Ärzten haben 74 Prozent ihre Ausbildung im Ausland gemacht.» Er hätte auch schreiben können – und es wäre angemessener gewesen –, dass sich die Schweiz die Ausbildung von 74 Prozent der neu zugelassenen Ärzte von den Nachbarländern hat finanzieren lassen.
Jans fährt fort: «Was würden wir machen ohne die Fachleute, die in Deutschland, Österreich, Italien oder auch Frankreich ausgebildet worden sind und zu uns kommen?» Was ist denn das für eine Frage? Noch dazu aus dem Mund eines Bundesrates. Es gehört zwar auch zu den Aufgaben von Politikern, Fragen zu stellen, vor allem aber sind sie gewählt worden, um Antworten zu geben. Und vorzugsweise bestehen die Antworten nicht darin, die gegenwärtigen Zustände als alternativlos zu erklären.
Wenn die ins Ausland ausgelagerte Ausbildung von Fachkräften ein wichtiger Grund sein soll, mit der EU Verträge abzuschliessen, dann gute Nacht. Dann kann man die Schweiz wegen Geschäftsaufgabe auch gleich schliessen. Dieses Businessmodell jedenfalls ist, um es im Ökonomen-Jargon zu sagen, nicht nachhaltig. Es ist ein Schneeballsystem, zum Implodieren verurteilt.
Mit diesem Bundesrat möchte man keine Schweiz gründen müssen. Im Übrigen gäbe es bessere Gründe für ein Rahmenabkommen mit der Schweiz. Dazu müsste man bereit sein, etwas mehr politische und gestalterische Phantasie aufzubringen, auch mehr Selbstbewusstsein und Entschlossenheit im Umgang mit einem Staatenverbund, dessen politisches Selbstverständnis sich zu oft auf Regulierungsorgien kapriziert.
Milliardäre drohen mit Auswanderung
Wie leicht man selbst Milliardäre hierzulande in Schreckensstarre versetzen kann, demonstriert gerade eine Erbschaftssteuer-Initiative der Juso. Fünfzig Prozent wollen sie von den Superreichen im Erbfall einkassieren. Das ist Enteignung und ökonomischer Unsinn. Und man kann davon ausgehen, dass die Mehrheit der Stimmberechtigten über ausreichend wirtschaftlichen Sachverstand verfügt, um die Schädlichkeit einer solchen Massnahme zu erkennen.
Aber wenn man nun sieht, wie die Reichen in diesem Land in Panik geraten und mit Auswanderung drohen für den Fall einer Annahme der Initiative, dann kann man sich nur wundern. Der Unternehmer Peter Spuhler erwägt einen Wegzug. In einem vor kurzem erschienenen Interview mit der NZZ sagt Thomas Straumann, Milliardär und Inhaber des gleichnamigen Unternehmens für Zahnimplantate, die Wahrscheinlichkeit, dass er auswandern werde, sei auf einer Skala von 1 bis 10 in kürzester Zeit von 3 auf 6 gesprungen.
Die Drohung mit der Auswanderung wirkt so unbeholfen, wie sie zugleich etwas kindisch anmutet. Sinnvoller wäre es, ein politisch missliebiges und auch inopportunes Anliegen mit den Mitteln der politischen und ausserdem auch ökonomischen Aufklärung zu bekämpfen. Straumann fällt nichts anderes ein, als etwas plump zu drohen: Man müsse entweder auswandern oder Anteile des Unternehmens verkaufen – zum Beispiel an einen chinesischen Investor, um die Erbschaftssteuer zu bezahlen.
Das ist nicht klug, es ist unsouverän und auf eine Art trotzig, die in der politischen Debatte deplatziert und vermutlich auch kontraproduktiv ist. Dieses Verhalten erweckt ausserdem den Anschein, als habe sich die Idee der Schweiz überlebt. Die Vorstellung nämlich, dass dieses Land auch eine Solidargemeinschaft ist, in der das Unternehmertum nicht nur einen Selbstzweck verfolgt, sondern auch dem Gemeinwohl dient.
Im Zweifel sagt man Nein
Beat Jans möchte lieber Fachkräfte importieren, als sie hierzulande auszubilden. Während es die Unternehmer vorziehen, ins Ausland zu gehen, um sich nicht in der Schweiz für ihre Anliegen politisch starkmachen und für eine faire Besteuerung kämpfen zu müssen. Beide Verhaltensweisen sind resignativ und vor allem phantasielos.
Was die politische und unternehmerische Elite vormacht, findet sein Gegenstück in der Bevölkerung. Die Schweiz ist eine ängstliche Nation geworden, ein Land von Zauderern und Bedenkenträgern, man stimmt im Zweifelsfall Nein aus Ängstlichkeit gegenüber dem Unbekannten. Denn besser, es bleibt alles, wie es ist. Man scheut das Risiko von Veränderungen, die Neues verheissen, von dem man nicht restlos weiss, was es bedeuten wird.
Als die Schweizer Stimmbevölkerung Anfang März der Initiative für eine 13. AHV-Rente zustimmte, rieb man sich allenthalben die Augen. So viel Übermut hätte man den Schweizern nicht zugetraut. Aber die Sache war auch bis auf die ungelöste Finanzierung überschaubar. Am Ende würde jeder etwas mehr Geld in der Tasche haben. Abzüglich der Kosten. Das war verführerisch genug. Ein grosser Wurf war das nicht, besonders weitsichtig auch nicht.
Etwas mehr politische Einbildungskraft möchte man sich darum wünschen. Eine ängstliche Nation ist dazu nicht imstande. Die Rente, die Gesundheit und die Zuwanderung: Das sind die konstanten Sorgen der Schweizer. In dieser Reihenfolge.
Kümmerliche Träume
«Das Einzige, was wir zu fürchten haben, ist die Furcht selbst», sagte Franklin D. Roosevelt bei seiner Inaugurationsrede am 4. März 1933. Es herrschten damals, als der amerikanische Präsident seinen Mitbürgern Mut machte, unvergleichlich härtere Zeiten. Heute ist es paradoxerweise gerade der relative Wohlstand, der zur Ängstlichkeit verführt. Die Verlustangst wächst mit dem Kontostand. Wer mehr hat, hat auch mehr zu verlieren.
Es ist kein Verbrechen, für die eigenen Interessen zu kämpfen. Ein Versäumnis hingegen ist es, das Kämpfen gleich ganz zu unterlassen. Die Eidgenossen waren keine Altruisten. Sie hatten den eigenen bescheidenen Wohlstand im Auge, den sie sich vom subalternen Adel nicht wegnehmen lassen wollten.
Das Land ist einen weiten Weg gegangen seither. Und heute feiert man eine 13. Altersrente für alle als grosse soziale Errungenschaft. So kümmerlich sind die Träume geworden. Und derweil drohen die Milliardäre mit der Auswanderung und damit, ihr Vermögen ins Ausland zu tragen, wenn das Volk nicht abstimmen sollte, wie sie es wünschen. Die Schweiz sollte wieder lernen, kühner und phantasievoller an den Geschicken dieses Landes zu arbeiten.