Montag, September 30

Die Asylzahlen sind rekordhoch. Ist das Boot voll, oder schaffen wir das? Die SP-Nationalrätin und der SVP-Altbundesrat sind sich in keinem Punkt einig – ausser einem.

Die SVP sagt, wir haben ein Asylchaos im Land. Wie sehen Sie es, Frau Widmer?

Widmer: Es sind so viele Menschen auf der Flucht wie noch nie: Das stimmt. Es gibt Herausforderungen: Auch das stimmt. Aber unser Asylsystem funktioniert. 2022 kamen mit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine etwa 100 000 Hilfesuchende in die Schweiz. Und die Schweiz konnte das meistern. Es gibt kein Asylchaos, die SVP will das bloss herbeireden.

Alles nur Panikmache, Herr Blocher?

Blocher: Wir haben ein Chaos, eine Unordnung – seit Jahren. Es gibt enormen Missbrauch im Asylbereich. Die Idee der Schweiz war seit je: Leute, die an Leib und Leben bedroht sind, nehmen wir auf. Aber 80 Prozent von denen, die um Asyl ersuchen, sind nicht an Leib und Leben bedroht. Stattdessen werden viele von ihnen «vorläufig aufgenommen». Man schickt sie nicht nach Hause, weil es «unzumutbar» sei. Aber es gibt mittlerweile so viele Unzumutbarkeitsgründe, dass wir bald gleich viele vorläufig Aufgenommene wie Flüchtlinge haben.

Zwei Generationen, zwei Meinungen

sgi. Christoph Blocher, 83, und Céline Widmer, 46, trennen eine Generation und die ganze Breite des politischen Spektrums. Blocher gilt als Begründer der modernen SVP. Von 2004 bis 2008 war der Absolvent eines Jusstudiums Justizminister und damit für das Asylwesen zuständig.

Widmer ist SP-Nationalrätin und Mitglied der Staatspolitischen Kommission. Sie befasst sich schwerpunktmässig mit dem Asyldossier. Die Absolventin einer Ausbildung zur Tontechnikerin und Politologin ist Stabsmitarbeiterin der Zürcher Stadtpräsidentin Corine Mauch, als deren potenzielle Nachfolgerin sie gehandelt wird.

Tatsächlich sind so viele Leute wie noch nie im Schweizer Asylsystem, insgesamt rund 130 000 Personen, ein Viertel mehr als während der Jugoslawienkriege. Es sind aber vor allem die Ukrainerinnen und Ukrainer mit dem Sonderstatus S, die zu diesem Effekt führen – bei den regulären Asylverfahren sind die Zahlen im Normalbereich.

Blocher: Schauen Sie in die Gemeinden! Schauen Sie, was um die Asylunterkünfte herum passiert! Wir sind jetzt schon viel zu grosszügig mit dem Flüchtlingsstatus.

Für Sie ist das Boot voll?

Blocher: Bei jenen, die wirklich verfolgt werden, nicht. Aber bei den Missbrauchsfällen: ja. Es ist Grössenwahn, alle aufnehmen zu wollen!

Widmer: Das fordert auch niemand. Wirklich grössenwahnsinnig ist die Behauptung, dass man mit einem restriktiven Asylsystem die globalen Flüchtlingsströme beeinflussen kann . . .

Blocher: Wir haben das für die Schweiz zu tun, da kann man es!

Widmer: Höchstens minimal. Abschreckung funktioniert nicht. Der Grund für die Schwankungen bei den Asylzahlen sind die Kriege in der Welt. Der Grund, warum es in den letzten Jahren so einen starken Zuwachs gibt, ist nicht ein lasches Asylsystem. Es ist der Krieg in der Ukraine, von Putin begonnen! Wir haben schon eines der schärfsten Asylsysteme in ganz Europa.

Wenn man den Anteil gutgeheissener Asylgesuche seit den 1990ern betrachtet, sieht man: Die Asylquote steigt – prozentual erhalten immer mehr Leute, die kommen, auch tatsächlich Asyl.

Widmer: Das zeigt für mich zwei Dinge. Erstens: Es gibt mehr Leute, die fliehen und Schutz brauchen. Und zweitens: Es kommen mehr, die tatsächlich ein Anrecht auf Schutz haben.

Blocher: Die dritte Erklärung lassen Sie weg: dass man die Gesuche heute lascher beurteilt! Und eher sagt: Im Zweifelsfall machen wir einen Flüchtling draus.

Sie selber haben als Bundesrat die Kriterien einst verschärft, Herr Blocher.

Blocher: Sie können auf dem Papier verschärfen, soviel Sie wollen. Es nützt nichts, wenn es nicht richtig umgesetzt wird.

Widmer: Das ist eine Unterstellung. Die Leute werden ausgeschafft, zurückgeschafft – letztes Jahr gab es einen Fünftel mehr Rückführungen und Ausreisen als im Jahr davor. Die Gesetze werden umgesetzt.

Nicht überall. Vor wenigen Tagen hat im deutschen Solingen ein abgewiesener Asylsuchender drei Menschen getötet. Er hätte ausgeschafft werden sollen . . .

Blocher: Solche Fälle haben wir auch in der Schweiz.

Widmer: Der Fall ist schrecklich – er macht auch mir Angst. Gegen Terroranschläge muss sich die ganze Gesellschaft stellen. Die Frage ist: Wie kann man sie verhindern? Da braucht es zum einen Massnahmen im Bereich Sicherheit. Zum Beispiel bessere Zusammenarbeit zwischen den Behörden, die nach solchen Tätern suchen. Das andere ist die Prävention: Man muss dafür sorgen, dass diese Täter sich nicht radikalisieren. Den Extremismus bekämpft man, indem man seine Ursachen bekämpft. Und das heisst: Bildung, Integration, Einbindung in den Arbeitsmarkt.

Blocher: Sie lassen immer das Wichtigste weg: das Larifari bei den Behörden! Das zeigte sich im Fall Solingen. Da ist ein verurteilter Krimineller, der zurückgeschafft werden soll. Aber man findet ihn nicht! Solche Fälle gibt es auch in der Schweiz. Es gibt Kantone, die bringen ihre Ausschaffungskandidaten einfach nicht weg. Sie finden sie nicht einmal mehr, weil sie untergetaucht sind.

Tatsächlich ist die Kriminalität bei Personen aus dem Asylbereich überdurchschnittlich hoch. Was nützt dagegen?

Widmer: Eine Studie der ETH Zürich hat kürzlich eine klare Antwort gegeben: Mehr Sozialhilfe führt im Asylbereich zu weniger Kriminalität.

Blocher: Es hilft nur eines. Man muss dafür sorgen, dass abgewiesene Asylbewerber nach Hause gehen. Ich weiss: Ausschaffungen sind unangenehm. Ich erinnere mich an eine Rückschaffung nach Nigeria: Um 31 Leute zurückzuschaffen, brauchte es 31 Begleiter – Ärzte, Polizisten, Betreuer. Da kann man sagen, das ist Verhältnisblödsinn. Aber ich sage Ihnen: Das schreckt Schlepper ab.

Widmer: Wir sind uns einig, dass die Fluchtrouten extrem gefährlich sind und man Schlepperbanden bekämpfen muss. Nur: Das Mittel dagegen ist ein anderes. Man muss vor Ort besonders vulnerable Flüchtlinge aufnehmen und sie direkt in die Schweiz holen. So umgeht man die Schlepper. Aber gegen so ein Resettlement-Programm kämpft die SVP an vorderster Front.

Blocher: Weil wir wollen, dass man im Gegenzug jene zurückweist, die illegal herkommen. Sie aber schützen diese Abgewiesenen mit der «vorläufigen Aufnahme».

Sie will vorläufig Aufgenommene integrieren. Er will diesen Status abschaffen und Schlepperbanden bremsen: Céline Widmer und Christoph Blocher.

Sprechen wir über diesen Status. Wer kein Asyl erhält, aber wegen Krieg oder drohender Verfolgung nicht zurückgeschafft werden darf, wird «vorläufig aufgenommen». Zurzeit sind es etwa 43 000 im Land. Der Status wird jedes Jahr überprüft, 90 Prozent bleiben aber langfristig hier.

Blocher: Dass sie lange hierbleiben, ist genau der Missstand!

. . . aber wie soll man damit umgehen? Die SVP fordert, man solle den Status abschaffen. Dabei haben Sie, Herr Blocher, ihn als Bundesrat beibehalten und weiterentwickelt.

Blocher: Ja, aber – wie Sie wissen – gegen meinen Willen. Der Name suggeriert, die müssten sofort wieder heim und blieben nicht hier. Ohne diese Täuschung hätte man dieses Konstrukt bei der Bevölkerung gar nicht durchgebracht. Heute bleiben viele für immer. Und jetzt spricht Frau Widmer schon von Integration. Aber warum soll man sie integrieren, wenn sie doch nach Hause müssen?

Widmer: Weil es eine Tatsache ist, dass diese Leute hierbleiben. Weil das Flüchtlinge sind, die nicht einfach so zurückkönnen. Und weil sie Anrecht auf Schutz haben. Gemäss der Flüchtlingskonvention und der Menschenrechtskonvention. Was die SVP fordert – die Abschaffung der vorläufigen Aufnahme –, wäre das Ende der humanitären Schweiz!

Blocher: Keineswegs. Es schliesst ein Schlupfloch und bremst die Schlepperbanden. Da wird viel zu leichtfertig gesagt: Ihr könnt noch ein bisschen bleiben. Wir müssen mehr zurückschaffen und vor allem schneller.

Im Kanton Zürich sollen vorläufig Aufgenommene neu schon ab Tag 1 Stipendien für eine Ausbildung beantragen können. Dagegen hat die SVP ein Referendum ergriffen; am 22. September stimmen wir darüber ab. Eigentlich geht es um eine ziemliche Detailfrage: Betroffen wären nur etwa 400 Personen, alle schon mit einer Ausbildungsstelle. Betreiben Sie Symbolpolitik, Herr Blocher?

Blocher: Es ist eine Detailfrage mit grosser negativer Wirkung. Die Schlepper werden das benutzen, um weitere Nichtflüchtlinge in die Schweiz zu bringen. Diese Vorlage schafft einen weiteren ungerechtfertigten Grund, um hier zu bleiben.

Frau Widmer, wollen Sie ein Bleiberecht durch die Hintertür schaffen?

Widmer: Nein. Bei dieser Abstimmung geht es lediglich um eine kleine Änderung im Zürcher Bildungsgesetz, die nur wenige hundert Personen betrifft. Vorläufig Aufgenommene haben bereits jetzt Zugang zu Stipendien. Nun geht es einfach darum, eine unnötige Wartefrist abzuschaffen. Ich nehme allerdings zur Kenntnis, dass die SVP bei ihrem Referendum gegen diese Detailänderung Sie aufbietet, geschätzter Herr Altbundesrat Blocher. Ich verstehe jedoch nicht, was dagegensprechen soll, dass solche Leute eine Ausbildung machen, arbeiten, auf eigenen Beinen stehen . . .

Blocher: . . . und hierbleiben und andere nachziehen.

Widmer: Auch wenn sie wieder zurückmüssen, sollen sie hier eine Ausbildung machen können. Das hat einen klaren volkswirtschaftlichen Nutzen: Die Leute werden selbständig, sie werden integriert – die Sozialhilfe wird entlastet.

Blocher: Es ist keine Bildungsvorlage, es geht um Stipendien für abgewiesene Asylbewerber. Wenn die hier Geld verdienen, wird die Zugkraft noch grösser. Sie schicken das Geld nach Hause, und die Schlepper bringen neue nach.

Sie sagen: Die Vorlage nützt der Wirtschaft, aber sie schadet der Schweiz?

Blocher: Natürlich. Schauen Sie sich die Folgen an, etwa bei der Kriminalität. Auch die Gemeinden, die vorläufig Aufgenommene und Flüchtlinge unterbringen müssen, mögen das nicht tragen. Und die Beraterin der Stadtpräsidentin (zeigt auf Widmer) sagt uns hier: «Wir tragen das alle zusammen.»

Widmer: Es ergibt doch Sinn, dass diese jungen Menschen bei uns eine Lehre machen. Sie sollten nicht den ganzen Tag in irgendwelchen Zentren herumgammeln. Das ist der Nährboden für Kriminalität und Parallelgesellschaften.

Aber was ist mit der Sogwirkung, von der Herr Blocher spricht?

Widmer: Das ist eine absurde und menschenverachtende Behauptung. Menschen fliehen nicht aus ihren Ländern, weil sie im Kanton Zürich bei der Ausbildung unterstützt werden. Sie fliehen vor Kriegen und Terrorregimen. Andere Kantone haben eine solche Regelung schon eingeführt. Die Erfahrungen sind gut, gerade angesichts des Fachkräftemangels. Unsere Wirtschaft war schon immer auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen. Die SVP verunglimpft sie mit ihren Kampagnen.

Blocher: Sie verdrehen die Fakten. Diese Leute sind nicht an Leib und Leben bedroht, sonst wären sie anerkannte Flüchtlinge. Viele werden auf ewig in der Schweiz bleiben, wegen Leuten mit einer Gesinnung wie der Ihren, Frau Widmer.

Widmer: Meine Gesinnung ist, dass ich die humanitäre Tradition der Schweiz verteidige. Sie treten sie mit Füssen. Ich verteidige das Recht auf Schutz vor Krieg und Verfolgung.

Blocher: Es stimmt: Es ist hart, abgewiesene Asylbewerber – namentlich Resistente, Gewalttätige – wieder nach Hause zu schicken. Das macht keinen Spass, ich weiss es aus eigener Erfahrung. Nehmen Sie die Ausschaffungsflüge: Um drei Uhr morgens müssen Sie die Widerspenstigen wecken. Man wird angespuckt, beleidigt, bedroht. Einige wenige müssen Sie fesseln, ihnen den Mund verkleben. Leider ist das notwendig. Um den Schleppern zu zeigen: Die Schweiz meint es ernst. Sie kommen so unter Druck ihrer ehemaligen «Kunden», denen sie versprochen hatten, in der Schweiz bleiben zu können.

Haben Sie es als Justizminister je bereut, jemanden ausgeschafft zu haben?

Blocher: Ein einziges Mal. Es ging um einen Mann, der wurde nach seiner Rückkehr zu 21 Jahren Gefängnis verurteilt, weil er den Wehrdienst verweigert hatte. Wenn wir das gewusst hätten, hätten wir ihn nicht ausgewiesen. Wir haben den Fall dann gelöst, indem wir damit gedroht haben, Entwicklungsgelder zu streichen. Er wurde dann freigelassen.

1981 trat das erste Asylgesetz der Schweiz in Kraft. Seither gab es acht Revisionen, die jedes Mal eine Verschärfung enthielten. Trotzdem diskutieren wir heute noch immer über zu hohe Zahlen und chaotische Zustände. Warum?

Blocher: Wir könnten das Ganze mit unseren heutigen Gesetzen bewältigen. Aber wir setzen sie zu wenig konsequent um! Wir tolerieren zu viele Missbräuche. Und jetzt wollen wir Abgewiesenen auch noch sofort Stipendien geben.

Widmer: Diese Ansicht teile ich nicht. Das Asylgesetz wird konsequent angewendet. Wir müssen viel früher beginnen und die Fluchtursachen bekämpfen – grenzüberschreitend, zusammen mit anderen Ländern, die alle vor denselben Herausforderungen stehen. Ich verspreche mir viel vom europäischen Solidaritätsmechanismus, der zurzeit diskutiert wird . . .

Blocher: Oje . . .

Widmer: Es braucht gemeinsame Lösungen, sonst kommen wir nicht weiter.

Wenn Sie allein entscheiden könnten, Frau Widmer, würden Sie allen vorläufig Aufgenommenen in der Schweiz ein unbegrenztes Bleiberecht geben?

Widmer: Das Wichtigste ist, dass wir den Leuten nicht zusätzlich Steine in den Weg legen, sondern die Integration vorantreiben. Dann kostet es im Übrigen auch den Staat weniger. Die Schweiz muss im Asylwesen mehr Verantwortung übernehmen, nicht weniger.

Blocher: Da haben Sie recht. Ich fürchte einfach, wir verstehen etwas völlig anderes darunter.

Würden Sie, Herr Blocher, wenn Sie könnten, morgen alle vorläufig Aufgenommenen abschieben?

Blocher: Nein. Aber ich würde anordnen, dass bei allen so schnell wie möglich überprüft wird, ob die Heimreise wirklich unzumutbar ist – oder ob das nur eine bequeme Ausrede ist? Der Grossteil müsste dann wohl das Land verlassen.

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