Spirig hat jahrelang mit Derron trainiert. Sie hatten erstaunlich viele Gemeinsamkeiten – auch den Trainer, der seinen Athletinnen kuriose Übernamen gibt.
Nicola Spirig, Sie waren jahrelang Trainingspartnerin von Julie Derron. Deren Gewinn der Triathlon-Silbermedaille muss auch für Sie eine Überraschung gewesen sein.
Jein. Julie war vor den Spielen so fit wie noch nie. Einmal lief sie im Training 21-mal 800 Meter, in einem hohen Tempo, mit kurzen Trabpausen dazwischen. Das hatte ich auch vor meinem Olympiasieg 2012 in London gemacht. Ein solch super hartes Training schaffen nur sehr wenige Frauen. Deshalb traute ich ihr eine Medaille zu. Aber zu den Topfavoritinnen zählte ich Julie nicht, weil sie sich noch nie an einem Grossanlass hatte beweisen müssen.
Im Rennen zeigte sie sich sehr abgebrüht, lief auf der Laufstrecke sogar frech vorneweg.
Das war keine Keckheit, sie fühlte sich gut und dachte einfach: Ich laufe mal, die anderen kommen dann schon, das ist ja locker für die. Und eben, jenes Schlüsseltraining hatte gezeigt, dass sie eine hohe Geschwindigkeit über eine längere Zeit halten kann. Hinter der Renntaktik stand sicher auch ihr Trainer Brett Sutton, der weiss, dass Julie nicht die weltbeste Sprinterin ist. Es ergab also Sinn, das Tempo von Beginn weg hoch zu halten, damit möglichst viele Konkurrentinnen wegfallen.
Julie Derron und Sie hatten Brett Sutton als Trainer. Beide sind Sie starke Radfahrerinnen und gute Läuferinnen. Es gibt da einige Parallelen.
Es gibt grosse Parallelen. Julie kam schon 2016 oder 2017 in Suttons Trainingsgruppe, zusammen mit ihren Schwestern. Damals sagte Sutton zu ihr: Das ist Nicola, deine Mentorin – und wenn du richtig gut werden willst, musst du dich an ihr orientieren, kopiere einfach ihren Stil. Aber auch wenn wir nun den gleichen Schwimmstil und einen ähnlichen Körper haben, hat sie natürlich ihre eigenen Fähigkeiten und Stärken.
Sutton liebt es, seinen Athletinnen Übernamen zu geben. So waren Sie einmal «The Champ» und die vielfache Ironman-Weltmeisterin Daniela Ryf «Angry Bird». Julie Derron nennt er «Little Pistol». Warum?
Es haben tatsächlich alle Athletinnen und Athleten einen Übernamen, ich war zu Beginn die «Swiss Miss». Sutton hat allen, die mit seinem Training eine Olympiamedaille gewonnen haben, einen Ohrring geschenkt. Die erste Beschenkte war die Australierin Emma Snowsill (Olympiasiegerin 2008 in Peking, die Red.), sie nannte er «The Mouse», weil sie so klein war, also schenkte er ihr Mäuschenohrringe. Mir schenkte er Ohrringe in Form eines Pferdes, weil er mich oft mit den Pferden verglich, die er früher trainiert hatte. Das haben Journalisten dann auch mal falsch interpretiert. Die meisten Athletinnen fanden ihren Zweitnamen aber lustig, weil er irgendwie passte.
Und was hat es mit der «Little Pistol» auf sich?
Julie war eine «kleine Pistole», weil Brett die Besten seines Teams als «Big Gun» bezeichnete. In Bezug auf Julie bedeutete das: Du bist noch nicht bereit, und solange du nicht richtig trainierst, bleibst du die «Little Pistol». Jetzt müsste sie vom Trainer eigentlich einen neuen Namen erhalten.
Wie eng war Ihre Beziehung zu Julie Derron in all den gemeinsamen Trainingsjahren? War das eine Beziehung, wie sie eine kleine Schwester zu ihrer grossen Schwester hat – und umgekehrt?
Nein, denn Julie hat schon zwei Schwestern, Michelle und Nina – da braucht es nicht noch eine mehr. Ausserdem ist sich die Familie Derron sehr nah und der Altersunterschied zwischen Julie und mir gross. Wir haben also nicht ständig zusammen Kaffee getrunken; aber wir haben viel zusammen trainiert – und das auch gern, denn wir waren in vielerlei Hinsicht ähnlich, beide strukturiert unterwegs, mit gleichen Ansichten zum Training. Ausserdem haben wir beide studiert.
Wird Derron einmal eine gute Langdistanz-Triathletin werden, wenn sie denn dorthin wechselt?
Ja, eine sehr gute sogar. Die langen Distanzen lagen mir zwar auch, aber wie Brett Sutton einmal über mich sagte: Du bist eine 3000-Meter-Läuferin, die ich zu einer Ironman-Athletin gestreckt habe. Ich hatte also eine gute Grundschnelligkeit, war vielleicht etwas schneller, Julie kann dafür eine hohe Pace sehr lange halten.
Man könnte die Behauptung aufstellen, dass es Derron geholfen hat, dass das Schwimmen im olympischen Triathlon in einem Fluss mit starker Strömung stattfand.
Das ist ein interessanter Punkt, über den wir nach dem Rennen auch geredet haben. Sie hat, wie ich, eine sehr hohe Kadenz in den Schwimmzügen. Das könnte ihr in der Gegenströmung der Seine geholfen haben, denn mit ruhigen Zügen gleitet man lange, und es zieht einen stärker zurück.
Derron hat schon Wettkämpfe über die halbe Ironman-Distanz absolviert, hat auch da grosses Potenzial. Sollte sie als 27-Jährige jetzt schon auf die Langdistanzdisziplinen wechseln? Die dortigen Topathletinnen werden ja immer jünger.
Es hängt davon ab, was Julie Freude macht. Sie ist jedenfalls nicht in einem Alter, in dem sie schon auf die langen Strecken wechseln muss. Viel trainieren muss man für jede Triathlondistanz, und da hilft es, wenn man es mit Leidenschaft macht. Als Julie 2021 die Qualifikation für die Olympischen Spiele nicht schaffte, schlug ihr der Trainer vor, doch auf die Ironman-Distanzen zu wechseln. Aber Julie stieg darauf nicht ein, denn sie hatte die Olympischen Spiele als Ziel, dort wollte sie unbedingt hin. Dieses Ziel kann sie jetzt abhaken.
Kann man als Gewinnerin einer olympischen Silbermedaille den Lebensunterhalt als Berufssportlerin bestreiten? Im Triathlon liegt das Geld ja nicht auf der Strasse.
Julie war schon vor dem Medaillengewinn Profi, also kann sie offenbar von ihrem Sport leben. Aber es ist sicher hilfreich, dass sie ein Studium abgeschlossen hat (in Lebensmittelwissenschaften, die Red.), das gibt eine gewisse Sicherheit. Man weiss, was man nach der Karriere machen kann.
Nur veraltet das Wissen, das man sich in einem Studium aneignet, relativ schnell.
Ja, aber mir hat mein Jurastudium viel gebracht, auch wenn mein spezifisches Wissen kleiner geworden ist. Wer sich als Sportlerin mit abgeschlossenem Studium später um eine Stelle bewirbt, kann eben signalisieren: Ich interessiere mich auch für andere Dinge, habe daneben auf andere Ziele hingearbeitet.