Aus den Trümmern des Markteinbruchs von 2022 entstand das heute noch gültige Narrativ eines bevorstehenden Booms der Kapitalinvestitionen. Es ist der Grund für die Stärke des Industriesektors, treibt aber auch die anderen Branchen und sorgt dafür, dass die Hausse intakt bleibt.
Am 12. Oktober 2022 notierte der MSCI Welt auf dem tiefsten Kurs seit Beginn des Abschwungs im Januar des gleichen Jahres. Es waren 2367,99 Punkte.
Zwei Tage später, am 14. Oktober, erschien in «The Market» ein Interview von Mark Dittli mit Russell Napier. Es trug den Titel: «Wir stehen vor einem Boom in den Kapitalinvestitionen». In meinem Beitrag vom 27. Oktober 2022 schrieb ich, dieser Titel sei schwer verdächtig, das Programm der aufsteigenden Erzählung zu werden.
Die dominante Erzählung am Tiefpunkt der Korrektur war Inflation, Inflationsbekämpfung und Rezession. Das Thema von Russell Napier war konträr zum sogenannten Mainstream.
Russell Napier und nur wenige andere haben die Zeichen der Zeit richtig gelesen, und der Markt vermittelte schon damals erste Signale, die seine These stützten.
Der seither stärkste Sektor, Information Technology, hat 87,5% zugelegt. Auf Platz zwei folgt trotz der Schwäche der Telecomindustrie mit plus 63,8% Communication Services. Treiber der Stärke dieses Sektors waren Aktien, die früher Bestandteil des MSCI Information Technology waren wie Alphabet oder Meta Platforms. Vor ein paar Jahren wurden sie in den beiden Industrien Entertainment und Interactive Media gebündelt und dem neu Communication Services genannten Sektor zugeteilt.
Drittstärkster Sektor ist Industrials mit einem plus von 56,5% gefolgt von Financials mit einem Zuwachs von 44,3%.
Subventionen beflügeln gewisse Sektoren
Industrieaktien profitieren von Kapitalinvestitionen, staatlichen Bürgschaften für Kredite zur Finanzierung von Investitionen in die Verlegung von Produktionsstätten, der Kreislaufwirtschaft, der Dekarbonisierung, der strategischen Infrastruktur einschliesslich der militärischen Aufrüstung. Und nicht zuletzt sind sie Nutzniesser gewaltiger Subventionen.
In der Ausgabe vom 25. März widmete die «Neue Zürcher Zeitung» unter dem Titel «Der Westen im Subventionsfieber» dem Thema der mit öffentlichen Geldern unterstützten Industriepolitik eine ganze Seite. Ein Satz ist mir dabei besonders ins Auge gesprungen: «Laut den Nipo-Daten wurden zwischen Anfang 2023 und Anfang März 2024 weltweit neue Subventionen im Wert von über 1900 Mrd. $ gesprochen», wobei Nipo für New Industrial Policy Observatory steht.
Ob Subventionen effiziente Investitionen fördern beziehungsweise darstellen oder nicht ist hier nicht das Thema. Das Thema ist, dass es Profiteure gibt. Und einige davon sind zweifelsohne börsenkotiert. Die direkten Nutzniesser liegen in der Industrie und in der Bauwirtschaft, was auch ablesbar ist daran, dass Construction Materials auf Platz 14 unter den fünfzehn stärksten Industrien aus allen Sektoren steht.
Banken profitieren von der Kreditnachfrage, und dort, wo die Ausfallsbürgschaften vom Staat getragen werden, sind sie nicht risikobehafteter als die Bonität der garantierenden Staaten. Nennt man das nicht Nirvana? Information Technology profitiert sowieso davon, denn ohne Chips und Software sind weder Produktion noch Betrieb von Kapitalgütern heutzutage denkbar.
Alle Sektoren steigen – aber nicht alle gleich schnell
Kein Wunder, glänzen auf der Top-15-Liste aller Industrien aus allen Sektoren des MSCI-Welt-Index insgesamt sechs von vierzehn aus dem MSCI Industrials und vier von sieben aus dem MSCI Financials, während mittlerweile, den verschiedenen Konsolidierungen sei gedankt, nur eine einzige Industrie aus dem MSCI Information Technology stammt, und zwar Technology Hardware, Storage & Peripherals.
Auch in der Marktbreite schwingen diese drei Sektoren oben auf: Financials mit 88,9%, Information Technology mit 82,2% und Industrials mit 81,1%.
Aus den als defensiv geltenden Sektoren Consumer Staples, Healthcare und Utilities kommen neun der fünfzehn schwächsten Industrien, worunter fünf Industrien aus Consumer Staples stammen.
Die Marktbreite von Consumer Staples liegt bei 50,9%, die von Healthcare bei 66,7%, und die von Utilities kommt auf 54,5%. Die Performance dieser drei Sektoren liegt seit Oktober 2022 bei 20,5% für Healthcare, 13,2% für Consumer Staples und 5,6% für Utilities. So kontrastieren Performance und Marktbreite gewaltig zwischen den Sektoren, die vom Investitionsboom profitieren und allen anderen, insbesondere denen, die als defensiv eingestuft werden.
Und nun zum Kursmomentum generell. Es ist positiv in allen Sektoren, und selbst drei der fünfzehn schwächsten Industrien weisen positives Kursmomentum auf. Der Grund für ihre Schwäche ist das relative Momentum.
MSCI Welt, MSCI USA und S&P 500, MSCI Europa und DJ Europe Stoxx 600 sowie MSCI Japan, Nikkei und Topix weisen alle positives Kursmomentum auf. Negatives oder neutrales Momentum sind nur in ein paar wenigen, gering kapitalisierten regionalen Indizes vorzufinden.
Das Narrativ heisst CapEx
Die Börse ist ein komplexes soziales System. Solche Systeme sind pfadabhängig. Pfadabhängige Systeme entwickeln sich aus einer Bifurkationsphase heraus in einen sogenannten Lock-in, in dem sie sich vorwiegend auf eine Informationsauswahl konzentrieren, die sich in der Bifurkationsphase aus Versuch und Irrtum als relevante Erzählung herauskristallisiert hat.
Andere Informationen werden kaum, gar nicht oder nur vorübergehend ernst genommen. Es besteht in solchen Phasen eine starke Neigung, dem adaptierten Narrativ widersprechende Informationen eine geringe Bedeutung beizumessen. Das Narrativ heisst CapEx. Es ist auf dieser Grundlage, auf der ich die Mustervorhersage wage, dass es sich bei den derzeitigen Avancen um einen Bullenmarkt handelt, der noch viel Luft nach oben hat.
Alfons Cortés