An der Tour de France fährt der Slowene dominanter als je zuvor und steht vor seinem dritten Gesamtsieg. Der ehemalige Trainer Antoine Vayer gibt sich überzeugt, dass er zu illegalen Substanzen greift.
Tadej Pogacar kann die Tour de France 2024 kaum noch verlieren, vor dem abschliessenden Einzelzeitfahren von Monaco nach Nizza hat er mehr als fünf Minuten Vorsprung auf seinen grössten Rivalen Jonas Vingegaard. Der 25-jährige Slowene gewann das wichtigste Radrennen der Welt bereits 2020 und 2021. Im Hochgebirge waren Pogacars Leistungen geradezu historisch: Er dominierte nicht nur die aktuelle Konkurrenz nach Belieben, sondern unterbot an Anstiegen wie jenem nach Plateau de Beille die Allzeit-Rekorde um mehrere Minuten. Das beschert ihm Skepsis.
Antoine Vayer hat eine der dunkelsten Phasen des Radsports aus nächster Nähe miterlebt. Er war Trainer bei der französischen Mannschaft Festina, als deren systematisches Doping während der Tour de France 1998 aufflog. Der einheimische Mitfavorit Richard Virenque und die Schweizer Alex Zülle, Laurent Dufaux und Armin Meier gerieten durch die Enthüllungen ebenso ins Zwielicht wie Vayer, der anschliessend nie wieder einen Job in einem Team fand.
In den folgenden Jahren entwickelte sich der 61-Jährige zum pointierten Dopingkritiker. Dass er die Szene bis heute scharfzüngig analysiert, mag teilweise mit seiner persönlichen Kränkung begründbar sein. Doch Vayer stützt sich neben seiner jahrzehntelangen Erfahrung auf objektiv nachvollziehbare Berechnungen.
Was ging Ihnen durch den Kopf, als Tadej Pogacar am vergangenen Sonntag den Anstieg nach Plateau de Beille in nur 39:50 Minuten bewältigte?
Ich bin mittlerweile abgestumpft. Also schenkte ich dem, was ich am Sonntag sah, von Anfang an keinen Glauben. Es war ein lustiger Moment, als ich die Stoppuhr anhielt, während Pogacar über die Ziellinie fuhr. Denn ich kann mich nicht erinnern, schon einmal eine derart unglaubliche Zeit gestoppt zu haben. In meinem Umfeld war der Überraschungseffekt enorm. Am häufigsten war von Verblüffung die Rede.
Pogacar war 3:44 Minuten schneller oben als der bisherige Rekordhalter Marco Pantani im Jahr 1998. Experten sagten anschliessend, dem Slowenen sei die stärkste Kletterleistung in der Geschichte des Radsports gelungen.
Es passt gut, dass Pogacar vor dem Beginn der Tour de France sagte, er habe sich auf dem Velo noch nie so gut gefühlt. Man erwartete also Unglaubliches von ihm, und nun wurde es tatsächlich unglaublich. Aber es gibt im Radsport keine Wunder.
In Fachkreisen kursieren Berechnungen, Pogacar habe während des fast vierzigminütigen Anstiegs 6,98 Watt pro Kilogramm Körpergewicht (W/kg) getreten. Das hat vor ihm wohl noch niemand geschafft.
Vielleicht war der Wert etwas tiefer als 6,98 W/kg. Aber weit über jenem magischen Bereich, den einst der Arzt Michele Ferrari für Lance Armstrong definiert hatte. Ferrari sagte, ab einer aerob-anaeroben Schwelle von 6,7 W/kg sei Armstrongs Form gut genug, die Tour zu gewinnen.
Armstrong wurden seine sieben Tour-de-France-Siege wegen Dopings aberkannt. Was wollen Sie mit dem Vergleich insinuieren?
Letztes Jahr wurde Pogacar an der Tour von Jonas Vingegaard geschlagen. Also mussten sie in seinem Team UAE reagieren. Aber sie können nicht einfach nur die Vorbereitung angepasst haben. Es ist physiologisch nicht möglich, sich derart zu verbessern. Sie führen uns an der Nase herum. Es hat etwas Irreales. Bei Festina dachten wir damals, man könne die ganze Welt austricksen, man könne alle betrügen. Ich glaube, in diesem Spirit sind sie auch jetzt wieder unterwegs. Sie fühlen sich unsterblich. Was sie machen, hat nichts mehr mit dem Velofahren zu tun, wie wir es kennen. Niemand glaubt das.
Es gibt durchaus Fans und auch Experten, die den heutigen Radsport für sauber halten. Immerhin wird deutlich besser und häufiger auf Doping kontrolliert.
Natürlich gibt es Personen, die den Radsport zelebrieren. Sie sehen die Leistungen und sagen «oh, là, là». Das sind entweder Ignoranten oder Komplizen.
Sie äussern scharfe Vorwürfe, ohne Belege vorweisen zu können. Pogacar und die anderen Spitzenfahrer der heutigen Generation wurden nie positiv getestet. Gegen sie liegt nichts vor.
Was wir mit eigenen Augen sehen, genügt als Beweis. Wir haben ein Problem, wenn Fahrer während vierzig Minuten 6,7 W/kg treten, nachdem sie bereits vier andere Pässe hinter sich haben. Die Tour de France hat ein Problem. Stellen Sie sich vor, ein Sprinter würde die 100 Meter an den Olympischen Spielen in 9,0 Sekunden schaffen. Das würde man sofort als Problem bezeichnen.
Was vermuten Sie konkret?
Darauf will ich keine Antwort geben. Es gibt viele Möglichkeiten, sich illegal Vorteile zu verschaffen, mechanisches Doping, Gen-Doping, perfluorierte Kohlenwasserstoffe, Wachstumshormone, Bluttransfusionen, DNA-Veränderungen, all das ist möglich. Aber es interessiert mich nicht. Mich interessiert nur die Feststellung, dass eine Leistung auf Betrug fussen muss, weil sie sonst nicht möglich wäre. Als Pantani vier Minuten Vorsprung herausfuhr, sagte ich auch schon, dass es nicht mit rechten Dingen zugehe. Und alle schwiegen. Jetzt ist es noch schlimmer.
Was müsste Ihrer Meinung nach passieren?
Es braucht eine sportpolitische Reaktion. Aber der Weltverband UCI unternimmt wenig.
Es gibt Erklärungen für starke Leistungen. Pogacar hat vor der Saison den Trainer gewechselt und die Vorbereitung professionalisiert. Er absolviert mehr Krafttraining, hochintensive Intervalle, setzt gezielter auf Höhentraining und übt den Umgang mit Hitze.
Hören Sie mir mit so etwas auf. Das Velofahren ist simpel. 6 W/kg zu treten, ist bereits eine aussergewöhnliche Leistung, und Pogacar schafft jetzt zehn Prozent mehr. Auf zehn Prozent bezifferte übrigens Armstrongs Helfer Tyler Hamilton einst den Effekt von Doping.
Dass die Betreuung im Radsport deutlich professioneller geworden ist, lässt sich kaum bestreiten.
Das wurde auch schon ins Feld geführt, als das britische Team Sky mit Bradley Wiggins, Chris Froome und Geraint Thomas den Radsport von 2012 bis 2019 dominierte. Aber trotz allen «marginalen Gewinnen» im Training und beim Material brachen sie an den grossen Pässen keine Rekorde. Ganz im Gegensatz zu Pogacar, der erst 25 ist und schon einen grossen Teil der alten Zeiten von Armstrong, Pantani und anderen unterboten hat.
Der Slowene selbst sagte am zweiten Ruhetag, die Velos seien in den letzten sechs Jahren nochmals deutlich schneller geworden, vor allem die Pneus.
Stopp, stopp, stopp. Das sind doch keine Argumente. Pantanis Velo war auch schon schnell. Und bergauf spielt die Aerodynamik sowieso eine weniger entscheidende Rolle. Das sind alles Ablenkungsmanöver.
Auch die Ernährungsstrategie wurde verbessert.
Schauen Sie sich den zwanzigsten Fahrer in Plateau de Beille an. Er wirkte wieder menschlich. Und sein Ernährungsplan ist exakt der gleiche wie jener von Pogacar.
Sie mögen Pogacar offensichtlich nicht. Im Peloton ist er trotz seiner Dominanz sehr populär.
In Frankreich gibt es ein Bilderbuch von Tyranno, dem Dinosaurier. Er tyrannisiert alle anderen Tiere, indem er ihnen Angst macht. Tyrannos zentrale Botschaft lautet: je grösser der Betrug, desto grösser die Lügen. Pogacar ist der neue Tyranno.
Was trauen Sie Pogacar sportlich noch zu?
Er kann machen, was er will, und es wirkt noch nicht einmal anstrengend. Schon zu Beginn der Saison gewann er mit mehreren Minuten Vorsprung, dann holte er sechs Etappen und den Gesamtsieg am Giro d’Italia, und wenn er will, triumphiert er auch noch an der Vuelta.
Sind in den nächsten Jahren weitere Steigerungen denkbar? Werden die langen Pässe irgendwann mit 8 W/kg bewältigt?
Oh, das wird super. Sie würden mit 30 Kilometern pro Stunde den Berg hochfahren. Aber andere werden immer noch mit 20 Kilometern pro Stunde unterwegs sein. Hier liegt das Problem. Schon jetzt haben 98 Prozent des Pelotons in der Gesamtwertung keinerlei Chance mehr.
Das stimmt nicht ganz, das Niveau ist generell gestiegen. Auch Jonas Vingegaard und Remco Evenepoel brachen am Sonntag in Plateau de Beille Pantanis Rekord.
Vor der Tour de France sagte ich, es gebe zwei Mutanten, Pogacar und Vingegaard. Und dahinter zehn bis zwölf Fahrer, die ebenfalls Limiten verschieben würden. So ist es gekommen. Es gibt eine Kettenreaktion: Fahrer schummeln, wenn sie sich sicher fühlen, nicht erwischt zu werden, und wenn sie wissen, dass andere es auch tun.
Also glauben Sie, dass wieder flächendeckend gedopt wird?
Es gibt Fahrer, die sich ethisch und tugendhaft verhalten. Diese bleiben auf ihrem bisherigen Niveau, welches wir bereits vor zehn Jahren sahen.
Deutliche Leistungssteigerungen mit sauberen Methoden schliessen sie kategorisch aus?
Man kann ein, zwei, drei Prozent besser werden, aber nicht zehn Prozent. Wenn der Franzose David Gaudu Pogacars Trainer hätte, würde er sich nicht weiter steigern.
Welche Rückmeldungen erhalten Sie aus der Szene auf Ihre Vorwürfe?
Es gibt Personen, die sich bei mir melden, weil für sie die Leistungen im Radsport ebenfalls rätselhaft geworden sind. Sie stellen sich Sinnfragen. Sie verdienen ihren Lebensunterhalt im Radsport, aber sie fühlen sich hilflos und verloren.
Können Sie die Tour de France noch geniessen?
Nein, und das ist wirklich schade. Manche Leute sagen, die Tour de France sei immerhin noch ein Spektakel. Aber es ist schon kein Spektakel mehr, es ist ein Zirkus. Das ist eine furchtbare Entwicklung, schlimm fürs Image des Sports.
Warum schauen Sie dann immer noch so genau hin?
Es gibt Leute, die mir sagen: «Wenn es dir nicht gefällt, kümmere dich doch nicht darum.» Andere meinen, der Radsport mache doch selbst dann Freude, wenn gedopt werde. Aber diese Haltungen mache ich mir nicht zu eigen. Gerade weil ich den Radsport liebe, kritisiere ich ihn. Ich wünsche mir, dass er wahrhaftiger wird.
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