Sonntag, September 29

In Oetwil am See bildete sich Ende des 19. Jahrhunderts eine Sekte mit skurrilen Ritualen. Ihre Anführerin hinterliess einen Goldschatz. Um diesen ranken sich bis heute Gerüchte.

Die Prophetin Dorothea Boller war bereits über achtzig Jahre alt. Sie merkte wohl, dass ihr Tod allmählich nahte. Magenkrebs. In ihrem Glauben an die eigene Unsterblichkeit begann sie zu wanken. «Muss ich doch sterben?», fragte sie zweifelnd ihren Mann. Um sich gleich selbst die Antwort zu geben: «Es scheint, dass ich muss.»

Im Totenbett verkündete sie ihren Anhängern noch, dass sie – die Braut und Wiederverkörperung Christi – zwar sterben, aber am dritten Tage auferstehen werde. Und dann, am 23. Februar 1895, tat Dorothea Boller ihren letzten Atemzug.

Da lag die alte Frau nun also regungslos und tot im Bett – und im Haus «Zur Aufstehung» geriet alles in helle Aufregung. Eilig trafen die Mitglieder der Gemeinschaft alle möglichen Vorbereitungen. Er war nun endlich da. Der grosse Moment, dem sie so viele Jahre lang bang entgegengesehen hatten.

Behörden drängen auf schnelle Bestattung

Als der dritte Tag anbrach, warteten alle mit grosser Spannung. Aber: Nichts geschah. Die Männer und Frauen im Haus waren irritiert. Sie glaubten an ein Missverständnis. Doch auch am vierten Tage passierte: nichts. Der Leichnam der Prophetin begann nur, ganz dem Lauf des Irdischen folgend, allmählich zu verwesen.

Die Anhänger der Glaubensgemeinschaft suchten Erklärungen. Hatten sie die Prophezeiung falsch verstanden? Würde ihre Anführerin nicht in drei, sondern in dreizehn Tagen wieder auferstehen? Oder waren möglicherweise drei Monate gemeint? Oder drei Jahre?

Aber so lange wollten die Behörden in Oetwil am See dann doch nicht zuwarten. Sie drängten auf eine schnelle Bestattung des Leichnams. Auf ihre Anordnung hin wurde Dorothea Boller schliesslich am 28. Februar begraben. Ihre Anhänger waren verzweifelt. Warum hatte es keine Auferstehung gegeben? Sollte etwa alles, woran sie geglaubt hatten, gar nicht gestimmt haben?

Dorothea Boller war 1811 in Egg geboren worden. Ihre Eltern erzogen sie streng religiös. Nach einer kurzen Zeit in der Dorfschule musste Dorothea bald schon zu Hause in der elterlichen Stube am Webstuhl sitzen. Seidenweben, tagein, tagaus. Später heiratete sie, verkaufte Strümpfe als Hausiererin. Doch sie fühlte sich zu Höherem bestimmt.

Es war drei Wochen vor Ostern 1848, als Dorothea Boller zum ersten Mal eine ihrer übersinnlichen Erfahrungen hatte. Sie war in Egg in der Kirche, und der Pfarrer predigte von der Auferstehung des Herrn. Just in dem Moment vernahm sie eine sonderbare Stimme, die zu ihr sprach: «Der Herr ist auferstanden. Er ist aber nicht hier auferstanden, in der Kirche, sondern in dir. Du bist die Kirche.»

Wohlhabende gerieten in den Sog von Dorothea Boller

Dorothea Boller verstand sich bald als Auserwählte, als Prophetin. Immer weniger war sie bereit, an die Kirche zu glauben und sich nach den Geboten des christlichen Lebens zu richten. Dieses empfand sie als falsch und als Schein, ein Lügen- und Wahnchristentum. Sie hingegen hatte das Wahre gefunden. Sie als Braut Christi und Mutter Zion – als Begründerin einer neuen Gemeinschaft.

Wie genau es ihr gelang, erste Anhänger um sich zu scharen, ist nicht überliefert. Gegenüber anderen Menschen sprach sie wohl von ihren Visionen. Und ihre Klugheit und das wortgewandte Auftreten halfen ihr dabei, überzeugend zu wirken.

In den Sog von Dorothea Boller gerieten vor allem alleinstehende, wohlhabende Leute. Zwei bildhübsche und vermögende Schwestern aus einem benachbarten Dorf etwa gehörten zu den ersten Anhängerinnen. Bald vermachten sie ihr schon ihr gesamtes Geld.

Dorothea Boller liess bald ihren Mann stehen und wohnte mit einem neuen Liebhaber zusammen, einem eifrigen Bücherleser und Mystiker. In Oetwil, gleich an der Grenze zu Esslingen-Egg, baute sich das Paar ein neues Haus, das sie «Zur Aufstehung» tauften. Im neuen Domizil wohnten die Eheleute; im Gebäude nebenan und später auch in anderen dazugekauften Häusern der Umgebung quartierten sich Angehörige der anwachsenden Gemeinschaft ein.

So etablierte sich rund um das Haus «Zur Aufstehung» eine Art Kommunenleben, in dessen Zentrum die Prophetin stand. Dorothea Boller zwang der Gemeinschaft strenge Regeln auf. Der Tag war mit Arbeit ausgefüllt. Die Männer betrieben Landwirtschaft, die Frauen woben Seide. Auf den Tisch kam nur karges Essen, oft wurde gefastet.

Für die Anhänger gab es auch nur ein kleines Taschengeld. Sonst ging alles Eigentum und alles Erworbene in die Hände der Seherin. Für die Anhänger war jeglicher Geschlechtsverkehr verboten – sogar unter Eheleuten. Bei Verstössen gab es erniedrigende Strafen. Die Mitglieder mussten dann Demütigungen über sich ergehen lassen. Beispielsweise erhielten sie den Befehl, in Lumpenkleidern im Regen durch das Dorf zu laufen.

Wenn die Sektenführerin gelegentlich Visionen überkamen, legte sie sich im Garten theatralisch auf den Rücken, wohlwissend, dass sie von ihren Anhängern beobachtet wurde. Sie lag dann unbeweglich da, vielleicht eine Stunde lang. Und wenn der Jenseitskontakt sein Ende gefunden hatte, erzählte sie den anderen vom Gespräch mit Gott und ihren Eingebungen.

Eine dieser empfangenen und an die Jünger weitergereichten Botschaften war, dass Dorothea Boller unsterblich sei. Eine andere lautete dahingehend, dass der Weltuntergang nahe. Die Gemeinschaft solle sich darauf vorbereiten, denn nur das Haus «Zur Aufstehung» werde verschont bleiben. Die Mitglieder begannen, eifrig Vorräte anzulegen, um für das Ende aller Tage gewappnet zu sein. Auch Seidengewänder und viele Stoffe in weisser Farbe fertigten sie auf Vorrat an.

Dorothea Boller bereitete sich ihrerseits auf das Ende der Welt vor. Sie begann grosse Summen Bargeld zu horten. Damit liess sie später diverse Gegenstände aus Silber und Gold herstellen: Tassen, Schüsseln, Teller, Platten, dazu Leuchter. Hinzu kamen ein Gürtel mit Schwert und eine diamantenbesetzte Krone aus Gold, die allein 560 Gramm wog.

Die edlen Utensilien waren für eine hohe Bestimmung vorgesehen: fürs Jenseits. Die Prophetin wollte nach ihrer Auferstehung mit Christus aus den prunkvollen Gefässen speisen. Auch der glänzende Schmuck war für diesen einen, grossen Moment bestimmt.

Laut Erzählungen zelebrierte die Gemeinschaft an grossen Festtagen oder bei besonderen Feiern seltsame Opferrituale. Ein schneeweisses Schaf oder ein Rind sei jeweils in die Versammlung gebracht worden, wo die Auserwählte es mit einem Stich ihres Goldschwerts getötet und das Blut mit einem Behältnis aufgefangen habe. Vor den Augen der Gläubigen habe darauf die Prophetin in diesem Blut gebadet. Ob sich das tatsächlich so ereignet hat? Oder war diese Geschichte eher der Phantasie eines späteren Berichterstatters entsprungen? Man weiss es nicht.

1895 starb jedenfalls die Prophetin, und keine ihrer Vorhersagen traf ein. Die Welt ging nicht unter, sondern drehte sich munter weiter. Und von einer Auferstehung war weit und breit nichts zu sehen. Zuerst wollten dies viele Mitglieder nicht wahrhaben. Erst nach Monaten wandten sich einige enttäuscht ab. Schliesslich löste sich die Gemeinschaft ganz auf.

Im Dorf hielten sich aber hartnäckig Gerüchte über die Existenz eines sagenhaften Silber- und Goldschatzes. 1908 erreichte ein Brief die Behörden in Egg. Ein früheres Mitglied der Gemeinschaft, ein Mann, teilte darin mit, dass er seit Dorothea Bollers Tod wertvolle Kultusgegenstände bei sich aufbewahrt habe. Er könne dies nun aber nicht mehr mit seinem Gewissen vereinbaren.

Schatz im Wert von 80 000 Franken

Die Behörden glaubten dem Mann anfänglich nicht. Aber sie gingen der Sache nach. Und trauten ihren Augen kaum, als sie den grossen Schatz tatsächlich zu sehen bekamen. Der Wert wurde auf insgesamt etwa 80 000 Franken geschätzt – für die damalige Zeit eine unglaubliche Summe. Von all den Kostbarkeiten wollte der Erbe, Dorothea Bollers Sohn, nur kleinere Andenken an seine Mutter behalten: ein Armband, einen Teelöffel, Finger- und Ohrringe. Der Rest der Gegenstände sollte veräussert werden.

So kam es, dass der Verkauf in die Wege geleitet wurde. Ein Antiquar und ein Goldschmied kauften die Gegenstände der Gemeinde ab. In der NZZ veröffentlichte der Antiquar einen mit «Unglaublich, aber wahr» betitelten Bericht, in welchem er in einem eher sensationslüsternen Ton vom Leben der Prophetin und von den «nächtlichen Zusammenkünften» im Geheimen berichtete.

Vermutlich erhoffte er sich davon einen höheren Erlös. Die Gegenstände hatten über das Material hinaus ja nur wenig künstlerischen Wert. So blieb die Hoffnung, zumindest wegen der skurrilen Herkunftsgeschichte Käufer anzulocken.

Viele der Teile wurde schliesslich an Private in Zürich verkauft, einzelne Stücke auch nach Deutschland, Frankreich und Amerika. Ob heute noch Gegenstände aus dem Schatz existieren, ist ungewiss. Ein kleiner Rest des Silberschatzes blieb offenbar erhalten und wurde 1980 in einer Zürcher Ausstellung gezeigt.

Das Gold aber wurde vermutlich alles eingeschmolzen. Bezeugt ist dies jedenfalls von der Krone, dem Schwert und einem Teil des Halsschmucks. Diese Gegenstände hatte der Goldschmied nämlich bei sich zu Hause auf dem Tisch im Wohnzimmer herumliegen.

Laut einer überlieferten Anekdote schnappte sich sein dreijähriger Sohn unversehens die Krone und spazierte in diesem Aufzug das Trottoir auf und ab. Die Eltern, darüber belustigt, liessen ihren Knirps noch mit Krone, Schwert und Halsschmuck bei einem Fotografen ablichten. Danach wurden die Kultusgegenstände eingeschmolzen.

So verschwand auch dieses letzte Zeugnis der rätselhaften Auferstehungssekte.

Annette Schär ist Kommunikationsberaterin und Autorin des lokalhistorischen Buches «Greifensee-Geschichten», das in diesen Tagen im Th.-Gut-Verlag erschienen ist. Dieser Text ist ein gekürzter Beitrag daraus.

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