Der junge Mann gesteht den Angriff bei einem Kinderhort in Oerlikon. Doch die Tat bleibt rätselhaft.
Es ist 12 Uhr 08 am 1. Oktober. Ein junger Chinese, der in einem Zürcher Studentenwohnheim in Oerlikon lebt, wünscht seinen Landsleuten auf Instagram ein freudigen Nationalfeiertag und postet einen wirren Liebesbrief an eine Frau, die er zugleich begehrt und beschimpft.
Untermalt wird all dies von patriotischer Marschmusik. Dazu Bilder von chinesischen Militärparaden und fröhlichen Kindern, die chinesische Flaggen schwenken.
Nur wenige Minuten, nachdem er diesen Instagram-Post abgesetzt hat, geht der junge Mann zu einem Kinderhort im Zürcher Kreis 11, der gleich neben seinem Wohnort liegt. Dort greift er unvermittelt mehrere Kinder mit einer Stichwaffe an.
Drei fünfjährige Knaben werden bei der Messerattacke verletzt. Einen der Knaben müssen die Rettungskräfte mit schweren Verletzungen ins Spital bringen, die beiden anderen erleiden mittelschwere Verletzungen. Inzwischen befinden sich alle drei Kinder ausser Lebensgefahr.
Polizei und Öffentlichkeit stellen sich die gleiche Frage: Was hat den Mann zu dieser Tat getrieben? Wie kann man wehrlose Kinder angreifen?
Aus seinen Aktivitäten in sozialen Netzwerken und Schilderungen von Nachbarn ergibt sich ein erstes, bruchstückhaftes Bild über den 23-jährigen mutmasslichen Täter: Zurückhaltend, scheinbar unglücklich verliebt, und ein glühender Nationalist.
Der Student ist seit einem Jahr in der Schweiz
Schwer bewaffnete Einsatzkräfte der Polizei stürmten am Dienstagnachmittag das Studentenwohnheim und durchsuchten das Zimmer des jungen Mannes.
Der Chinese studierte laut Angaben in den sozialen Netzwerken an der Universität Zürich seit gut einem Jahr im Bereich der Computerwissenschaften. Zuvor hatte er offenbar an einer chinesischen Universität seinen Bachelor absolviert. Die Oberstaatsanwaltschaft hat am Mittwoch in einer Mitteilung bestätigt, das er sich zu Studienzwecken in Zürich befand. Demnach hält sich der junge Mann seit Sommer 2023 in der Schweiz auf.
Zimmernachbarn im Wohnheim wissen wenig über ihn zu berichten, er sei ein stiller, zurückgezogener und unauffälliger Typ gewesen. Nie habe man etwa laute Musik aus seinem Zimmer gehört, nie habe er Besuch empfangen, sagt eine Nachbarin. Mehr als gegrüsst habe man sich nicht.
Aufschlussreicher ist sein Instagram-Profil. Dort tritt er als glühender Patriot, Fan der amerikanischen Schauspielerin und Sängerin Olivia Rodrigo und unglücklich Verliebter auf, wie der Lokalsender «Tele Züri» als erstes berichtet.
Neben Videos aus Zürich, den Genfersee und ein Konzert von Olivia Rodrigo in Zürich («So powerful») findet sich auch ein Kommentar zu Taiwan. Über eine Uni-Veranstaltung zu Taiwan schreibt der junge Mann wütend: «Schande über die Unabhängigkeit Taiwans. Die Provinz gehört zu China.»
Für die Ermittler dürfte aber jener Post besonders spannend sein, den er unmittelbar vor seiner Tat publizierte. Untermalt von Marschmusik der Volksbefreiungsarmee ist auf seinem Instagram-Profil ein längerer Brief an eine Frau zu lesen. Er nennt sie zuerst nur kleiner Schatz und später seine liebste Parteisekretärin. Der Liebesbrief beginnt explizit. Er schreibt, dass er gerne Sex mit ihr haben möchte und phantasiert darüber, was er im Bett alles mit ihr anstellen würde.
Danach wechselt der Ton des Briefs. Der junge Mann schildert zärtliche Szenen: Wie sie einmal gemeinsam einen Regenschirm gehalten hätten, er ihr Tee mit Milch in die Schule gebracht habe, wie sie in der Universitätsbibliothek in China jeweils bis zum Ende geblieben seien.
Aus dem Text wird nicht klar, ob sich die zwei jemals nahe gekommen sind. Wahrscheinlicher ist, dass nur er sich diese Nähe gewünscht hat. «Ich denke, wir sind eng verbunden, deshalb schreibe ich das, als wäre ich dein Freund», heisst es darin. Er selbst präsentiert sich ihr als ein «wirklich netter, sanftmütiger, guter Mensch.»
Er vermisse sie und seine Heimat und hoffe, der Nationalfeiertag werde ein glücklicher Tag. «Ich liebe dich inbrünstig so wie auch die Partei und unser Land.»
Zum Schluss des Briefs wird der Tonfall plötzlich aggressiv. Er äussert sich abfällig über die Frau. Sie sei gar nicht so hübsch, eher gewöhnlich. Und sie sei wohl auch von ihrem Schwarm zurückgewiesen worden. eigentlich sei sie wohl eine Frau, die für viel Geld mit Männern schlafe.
Danach folgen patriotische Bilder zum Nationalfeiertag.
Der wirre Post und vor allem der Zeitpunkt seiner Veröffentlichung lassen die Frage aufkommen: Haben sich der Frust über eine Zurückweisung oder soziale Isolation in einer Irrsinnstat entladen? Auskunft darüber kann nur der junge Mann selbst geben. Ob er sich zu dieser und anderen Fragen zur Tat geäussert hat, dazu wollen sich die Ermittler momentan nicht äussern.
Sicher ist bisher einzig: Nach der Tat wird der 23-jährige Chinese auf eine Polizeiwache gebracht, wo ihn die Ermittler einvernehmen. Der junge Mann zeigt sich dabei geständig. Zum Motiv äussert sich die Oberstaatsanwaltschaft nicht. Im Communiqué heisst lediglich, es hätten sich bisher keine Hinweise auf Mit- oder Nebentäter ergeben. Die Ermittlungen würden jedoch intensiv weitergeführt. Zudem hat die Staatsanwaltschaft Antrag auf Untersuchungshaft beim Zwangsmassnahmengericht gestellt.
Helfer: «Dachte, ich muss ihn festhalten, damit er nicht abhaut»
Ohne den mutigen Einsatz einer Frau und eines Mannes hätte es noch viel schlimmer ausgehen können. Eine Mitarbeiterin des Kinderhorts war zusammen mit mehreren Kindern zur Mittags- und Nachmittagsbetreuung unterwegs gewesen. Die Gruppe befand sich im Freien, als sich der junge Chinese plötzlich näherte und die Kinder mit einer Stichwaffe attackierte.
Der Hortleiterin gelang es, zu reagieren. Zusammen mit einem Helfer konnte sie den Angreifer überwältigen und bis zum Eintreffen der Einsatzkräfte festhalten.
Der Helfer äusserte sich später gegenüber «20 Minuten». Er sei auf das Geschehen aufmerksam geworden, weil die Kinder nicht wie sonst singend an seinem Arbeitsplatz vorbeigelaufen seien, sondern um Hilfe gerufen hätten. Deshalb sei er hinaus gegangen, um nachzuschauen. Eine Passantin habe zu ihm gesagt, jemand habe die Kinder mit einem Messer angegriffen.
Der Täter sei ruhig gewesen und auf dem Boden gesessen. «Aber ich dachte, ich muss ihn festhalten, damit er nicht abhaut, also nahm ich ihn in den kontrollierten Griff.» Die Hortleiterin habe die Tatwaffe, unter ihrem Fuss eingeklemmt.
Am Tag nach der Tat versuchen die Behörden, im Hort so etwas wie Normalität einkehren zu lassen. Zwar stehen noch immer Careteams bereit, der Unterricht und die Betreuung der Kinder findet aber wie gewohnt statt.