Der Aargauer leidet mit, wenn seine Gäste beim Roulette alles verlieren. Besuch in einer verführerischen Scheinwelt, die auch Betrüger anzieht.
Die Welt von Christoph Boo glitzert ein bisschen. Da, wo er arbeitet, hängt eine funkelnde Lichterkette im Treppenhaus, die Rolltreppen werden von goldenen Leuchtkörpern flankiert, die Automaten im Obergeschoss blinken in allerlei Farben.
Aber mit Glamour hat das wenig zu tun: Das Casino Zürich im Haus Ober an der Gessnerallee ist nicht das Casino Royale aus dem gleichnamigen James-Bond-Film. Sein Inneres versprüht den seltsamen Charme einer auf Hochglanz polierten Scheinwelt. Ledersessel, Spieltische, leuchtende Säulen prägen den Raum. Viel Schwarz, viel Rot, kaum Tageslicht, obwohl es draussen noch hell ist. Auf einem Flachbildschirm an der Wand läuft ein Fussballspiel. Niemand schaut hin.
Boo steht am Roulettetisch, er trägt keine Fliege. Ein graues Hemd und eine dunkle Weste tun’s auch. Smokings oder Abendkleider sind keine auszumachen, auch keine Martinigläser wie beim Geheimagenten Ihrer Majestät. Stattdessen dominieren T-Shirts, Trainerhosen, Turnschuhe. Die Männer und die wenigen Frauen an den Tischen und den Spielautomaten wollen ihren Alltag vergessen, so scheint es, an diesem gewöhnlichen Dienstagabend vor ein paar Wochen.
Wozu sich in Schale werfen? Ein Ausweis genügt. Plus 10 Franken Eintritt. Und natürlich ein Startgeld zum Spielen, um zu gewinnen – und zu verlieren.
Straight-up, Split, Street
Christoph Boo, 37, ist Croupier von Beruf: Der Aargauer leitet das Spiel mit der Kugel. Er muss die Regeln kennen, die Handgriffe beim Roulette beherrschen – und vor allem viel auswendig wissen: die Reihenfolge der Zahlen auf dem Kessel (0, 32, 15, 19 . . .), wie man setzen und kombinieren kann und wie viel man gewinnt, wenn die Kugel tatsächlich auf eine jener Zahlen fällt, auf die man gesetzt hat.
Bei einem Straight-up etwa, einem Volltreffer auf einer einzigen Zahl, gewinnt man das 35-Fache des Einsatzes. Ein Split, also wenn man auf zwei benachbarte Zahlen setzt und eine davon gewinnt, wird 17-fach ausbezahlt, mit einer Street erzielt man den 11-fachen Gewinn, für einen Corner, mit dem man zum Beispiel auf die 5, 6, 8 und die 9 setzen kann, erhält man den Einsatz plus das 8-Fache der gespielten Chips zurück. Und dann gibt es noch Kolonnen, Dutzende, grosse und kleine Serien, rot oder schwarz, gerade oder ungerade und so weiter.
Croupiers müssen die Optionen der Spieler auch kombinieren und deren Gewinne schnell addieren können. «Faites vos jeux!» Oder wie man in Zürich sagt: «Ihre Einsätze, bitte!» – bis zur nächsten Runde darf nicht zu viel Zeit verstreichen. Die Chips müssen innert Sekunden eingesammelt und vor allem passend verteilt werden. Die Verlierer am Tisch wollen es schliesslich gleich noch einmal probieren. Und dann noch einmal und noch einmal.
Boo sagt: «Man muss mit Glück gewinnen.» Für ihn ist klar: Der Zufall entscheidet, wo die Kugel landet. Der Mensch ist Fortuna ausgeliefert wie wohl in keinem anderen Spiel im Kasino an der Gessnerallee.
Der Rest ist Mathematik. Je mehr Zahlen die Chips abdecken, desto kleiner der mögliche Gewinn. Roulette wird zwar immer wieder als fair angepriesen, auch von den Betreibern des Casinos Zürich. Doch rein rechnerisch schneidet die Bank immer besser ab als die Spieler. Dies deshalb, weil deren Gewinnquoten so berechnet sind, als gäbe es nur 36 Zahlen. Mit der Null sind es jedoch 37. Die Chance auf einen Straight-up beträgt also nicht 1:36, sondern 1:37.
Dieser kleine Unterschied sichert Kasinobetreibern einen entscheidenden Vorteil: Sie zahlen ihren Gästen weniger aus, als es aufgrund der Wahrscheinlichkeit, einen Volltreffer zu landen, tatsächlich angebracht wäre. Dieser Vorteil lässt sich genau beziffern: Er beträgt 1/37 – also 2,7 Prozent.
Mit anderen Worten: Roulettespieler müssen damit rechnen, dass sie Runde für Runde 2,7 Prozent ihres Einsatzes verlieren – zumindest auf sehr lange Sicht, wenn Ausschläge nach oben und unten immer mehr verschwinden. Am Ende gewinnt immer das Kasino. Das zeigt sich auch in anderen Zahlen. 2023 erwirtschaftete das Casino Zürich einen Bruttospielertrag von 62,4 Millionen Franken. Das bedeutet, die Besucher des klobigen Glückstempels haben viel mehr verloren als gewonnen.
Doch das ist abstrakte Theorie. Die Geschichte von Christoph Boo ist viel konkreter. Als Kind schon faszinierten ihn Zauber- und Taschenspielertricks. Die Fingerfertigkeit, die es dazu braucht, war später auch als Poker-Dealer gefragt. Und seit 2009 als Croupier: Nach dem Militärdienst machte der gelernte Physiklaborant einen sechswöchigen Kurs in Basel. Das dortige Kasino suchte neue Mitarbeiter, bei Bedarf bildet die Branche ihre Fachkräfte selber aus. Ein Flair für Zahlen sollte man haben, gute Umgangsformen und gepflegte Hände. So steht es im Online-Verzeichnis der Berufe in der Schweiz.
Und man sollte präzise und zuverlässig sein. Die Anordnung der herumgeschobenen Chips, die Handgriffe an den Spieltischen, das Zeichen, dass man nicht mehr setzen darf, wenn die Kugel bereits rollt beim Roulette: All das ist in Schweizer Kasinos genau vorgeschrieben. Boo und seine Kolleginnen und Kollegen arbeiten unter Beobachtung. Kameras an der Decke zeichnen alles auf, Tricksereien von Spielern – und von Croupiers – sollen so verunmöglicht werden.
Betrüger versuchen es trotzdem. Im vergangenen Frühling erbeutete eine chinesische Bande im Casino Zürich 130 000 Franken. Die Kriminellen hatten es geschafft, beim Glücksspiel Punto Blanco heimlich die Karten zu filmen und sich so deren Reihenfolge zu merken. Dann flog ihre Masche auf, die Täter wurden verhaftet und wegen Betrugs verurteilt. Seither werden die Karten bei Punto Blanco nicht mehr von Hand, sondern von einer Maschine gemischt. Die Automatisierung schreitet auch im Croupier-Metier voran.
«Ich bin ein Perfektionist»
Boo ist einer der Besten seines Fachs. 2022 wurde er an den Glücksspiel-Titelkämpfen in Monte-Carlo zum besten Croupier Europas gekürt. Der Mann mit den flinken Fingern sagt: «Ich bin ein Perfektionist.» Er will sein Spiel präsentieren, unterhalten, ein zuvorkommender Gastgeber sein, schnell rechnen, die Chips den Gewinnern korrekt, rasch und gleichzeitig elegant überreichen, sich freuen mit ihnen – und mitfühlen mit jenen Spielern, die gerade all ihr Geld verloren haben und deren Chips er nun mit einer oder beiden Händen vom Tisch wischen muss. Nichts geht mehr, alles weg.
Der Croupier weiss, wie das ist. Mit 18 war Boo zum ersten Mal in einem Kasino. Kurz nachdem er das Mindestalter erreicht hatte, mit 600 Franken in der Tasche. Sein Ziel: möglichst lange zu spielen. Das zumindest klappte gut, das Geld reichte für mehrere Stunden. Dann waren all seine Chips verloren.
Und wenn man nur gewinnen würde?
Boo sagt: «Das wäre doch langweilig.»
Einmal hat er einem Spieler beim Roulette 136 000 Franken ausgezahlt. «In einer einzigen Runde – das gab 1000 Franken Trinkgeld.» Ein unschönes Erlebnis seiner Laufbahn war der Überfall auf das Grand Casino Basel im Frühling 2010, als mehrere Männer die Spielhalle stürmten und Gäste und Angestellte mit Schusswaffen bedrohten. Boo warf sich wie die anderen im Raum auf den Boden. Ernsthaft verletzt wurde niemand.
Macht Glücksspiel glücklich? Und falls ja – ist es das Geld?
«Spielen macht glücklich», antwortet der Croupier. «Das ist dem Menschen gegeben.» Man müsse beides erleben: gewinnen und verlieren, das Auf und Ab. Das löse das Glücksgefühl im Körper aus: die Spannung, das Ungewisse. Die Frage, wie lange man durchhält, bis man ausgespielt und vielleicht trotzdem ein kleines Plus erzielt hat.
Glücklich indes sehen die Kasinogäste an diesem Sommerabend nicht aus. Eher müde, abgekämpft, abwesend. Aber vielleicht täuscht der Eindruck. «Wenn Sie mir beim Spielen zusähen, würden Sie Ähnliches denken», sagt der Croupier. Regelmässige Besucher verlieren sich im Kasino. Sie konzentrieren sich auf den nächsten Einsatz, das nächste Blatt, die nächste Runde am Spielautomaten. Sie driften ab in ihre eigene Welt.
Ein delikater Zustand, der süchtig machen kann – vor allem, wenn man vor Problemen davonrennt oder einfach nicht «Stopp» sagen kann. Nach Angaben des Bundesamts für Gesundheit haben 0,2 Prozent der Bevölkerung mit einem pathologischen Spielverhalten zu kämpfen, also knapp 18 000 Personen. 2,8 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer gehen beim Glücksspiel ein besonders hohes Risiko ein. Kasinobetreiber sind per Gesetz dazu verpflichtet, «angemessene Massnahmen» zu treffen, um ihre Gäste vor exzessiven Einsätzen – und damit vor sich selbst – zu schützen. Sie können auch Spielsperren aussprechen.
Kasinoferien im Ausland
Geldspielprofis würden das Innenleben von Kasinobesuchern anders beschreiben: Bei Poker, Roulette oder Black Jack lebt man komplett in der Gegenwart. Die Arbeit, die Familie, der nächste Tag: All das ist weit weg. Es zählen nur das Hier und Jetzt – und der nächste Entscheid. Rot oder Schwarz? Weitermachen oder aussteigen?
Wie lange er noch weitermache?
Christoph Boo muss nicht lange überlegen. «Bis es mir verleidet – aber davon ist bis jetzt nichts zu spüren, auch nach fünfzehn Jahren nicht.» Arbeitstage, die auch am Wochenende bis in die frühen Morgenstunden dauern können, scheinen ihn nicht zu stören. Der Croupier lebt allein. Privat spielt er immer noch gerne – auch wenn er dafür ins Ausland reisen muss. Er war schon in Montenegro oder in Estland, um sein Glück zu versuchen. In einem Schweizer Kasino darf er nicht spielen. Das ist den Mitarbeitern hiesiger Spielbetriebe verboten.